Der Meister
schließen.
Die Wellen von arteriellem Blut setzten sich über die Tafel fort, um die Ecke und über die anschließende Wand. Hier wurden die Ausschläge der Kurve mit dem abnehmenden systolischen Druck kleiner, und die Welle begann sich zum Boden hin zu senken. Sie endete in einer verschmierten Pfütze vor dem Empfangstresen.
Das Telefon. Wer auch immer hier gestorben ist, hat noch versucht, das Telefon zu erreichen.
Jenseits des Empfangsbereichs war ein breiter, von Waschbecken gesäumter Korridor, von dem die Türen zu den einzelnen OPs abgingen. Sie schritt die Reihe der Becken ab, vorbei an einem Spurensicherungsbeamten, der sie kaum eines Blickes würdigte. Niemand stellte sie zur Rede, auch nicht, als sie durch die Tür von OP 4 trat und wie angewurzelt stehen blieb, schockiert von den Spuren des Blutbads, das hier stattgefunden hatte. Die Opfer waren zwar schon weggebracht worden, doch ihr Blut war noch überall. Wände, Schränke und Tische waren damit bespritzt, und von den Sohlen sämtlicher Personen, die nach dem Mord die Szene betreten hatten, war es über den Fußboden verteilt worden.
»Ma’am? Ma’am?«
Zwei Männer in Zivil standen vor dem Instrumentenschrank und musterten sie kritisch. Der Größere der beiden kam auf sie zu; seine Überschuhe aus Papier machten schmatzende Geräusche auf dem klebrigen Boden. Er war Mitte dreißig, und seine Bewegungen strahlten die anmaßende Überheblichkeit aus, die so typisch für muskelbepackte Männer ist. Maskuline Kompensation, dachte sie mit einem Blick auf die für sein Alter schon extrem hohe Stirn.
Bevor er die unvermeidliche Frage stellen konnte, hielt sie ihm ihren Dienstausweis hin. »Jane Rizzoli, Mordkommission, Boston P. D.«
»Was hat denn Boston hier verloren?«
»Tut mir Leid, ich weiß Ihren Namen nicht«, entgegnete sie.
»Sergeant Canady. Abteilung Zielfahndung nach flüchtigen Straftätern.«
Ein Beamter der Staatspolizei von Massachusetts. Sie wollte ihm schon die Hand schütteln, sah dann aber, dass er Latexhandschuhe trug. Ohnehin schien er an einem Austausch von Höflichkeiten kein Interesse zu haben.
»Können wir etwas für Sie tun?«, fragte Canady.
»Vielleicht kann ich etwas für Sie tun.«
Canady schien nicht sonderlich begeistert über das Angebot. »Wie?«
Sie betrachtete die Wand, an der das Blut in Strömen herabrann. »Der Mann, der das hier getan hat – Warren Hoyt …«
»Was ist mit ihm?«
»Ich kenne ihn sehr gut.«
Jetzt gesellte sich der kleinere Mann zu ihnen. Er hatte ein blasses Gesicht und Segelohren, und obwohl er ganz offensichtlich ebenfalls Polizist war, schien ihm Canadys Reviergehabe fremd zu sein. »He, ich kenne Sie, Rizzoli. Sie sind doch diejenige, die ihn geschnappt hat.«
»Ich war in dem Team, ja.«
»Nein, Sie sind doch die, die ihn dort in Lithia gestellt hat.« Im Gegensatz zu Canady trug er keine Handschuhe, und er streckte ihr die Hand zur Begrüßung hin. »Detective Arien, Fitchburg P. D. Sind Sie extra deswegen den weiten Weg gekommen?«
»Gleich nachdem ich davon erfahren habe.« Ihr Blick schweifte zurück zur Wand. »Ihnen ist doch klar, mit wem Sie es zu tun haben, nicht wahr?«
»Wir haben alles im Griff«, beeilte sich Canady zu sagen.
»Kennen Sie seine Vorgeschichte?«
»Wir wissen, was er hier angerichtet hat.«
»Aber kennen Sie auch ihn? «
»Wir haben seine Akte aus Souza-Baranowski.«
»Und das Wachpersonal dort hatte keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten. Sonst wäre das hier nie passiert.«
»Ich habe bisher noch jeden geschnappt«, sagte Canady. »Sie machen alle dieselben Fehler.«
»Der hier nicht.«
»Er hat nur sechs Stunden Vorsprung.«
»Sechs Stunden?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn schon verloren.«
»Wir durchkämmen systematisch die Umgebung«, brauste Canady auf. »Wir haben Straßensperren mit Fahrzeugkontrollen eingerichtet. Die Medien sind informiert, und alle örtlichen Fernsehstationen haben sein Foto gesendet. Wie gesagt, wir haben die Sache im Griff.«
Sie erwiderte nichts, und erneut wanderte ihr Blick zu den Rinnsalen von Blut an der Wand. »Wer ist hier in diesem Raum gestorben?«, fragte sie leise.
Es war Arien, der ihr antwortete. »Die Anästhesistin und die OP-Schwester. Die Anästhesistin hat dort am Fußende des Tischs gelegen. Die Schwester wurde hier nahe der Tür gefunden.«
»Und sie haben nicht geschrien, nicht nach dem Wachmann gerufen?«
»Das dürfte ihnen schwer gefallen sein. Beiden Opfern
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