Der Meister
sagte Crowe.
»Wieso?«
»Das werden Sie schon sehen, wenn Sie hier sind.«
10
Schon auf der Vortreppe wehte Rizzoli durch die offene Haustür der Geruch des Todes entgegen. Sie zögerte, den ersten Schritt in dieses Haus zu tun, sich dem Anblick dessen auszusetzen, was sie dort erwartete. Sie hätte sich liebend gerne noch einen kurzen Aufschub gegönnt, um sich innerlich auf die Tortur vorzubereiten, aber Darren Crowe, der ihr die Tür geöffnet hatte, stand vor ihr und sah sie erwartungsvoll an, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als Handschuhe und Überschuhe anzuziehen und sich in das Unvermeidliche zu fügen.
»Ist Frost schon da?«, fragte sie, während sie die Latexhandschuhe überstreifte.
»Ist vor ungefähr zwanzig Minuten gekommen. Er ist da drin.«
»Ich wäre schon eher hier gewesen, aber die Fahrt von Revere hat so lange gedauert.«
»Von Revere?«
»Von der Geburtstagsfeier meiner Mutter.«
Er lachte. »Hört sich an, als hätten Sie sich da prächtig amüsiert.«
»Keine Fragen, bitte.« Sie zog den zweiten Überschuh an und richtete sich auf. Ihre Miene war jetzt ganz geschäftsmäßig. Männer wie Crowe ließen nur Stärke gelten, und Stärke war das Einzige, was sie ihn sehen ließ. Als sie das Haus betrat, war ihr bewusst, dass sein Blick auf ihr ruhte, dass er ihre Reaktionen auf das, was sie hier erwartete, genau beobachten würde. Er stellte sie auf die Probe, immer und überall, und wartete nur darauf, dass sie einmal versagte – wohl wissend, dass dieser Moment früher oder später kommen würde.
Er schloss hinter ihr die Tür, und in der stickigen Luft überkam sie sofort ein Gefühl der Beengung. Der Gestank des Todes war jetzt noch stärker, und ihre Lungen füllten sich mit den üblen Ausdünstungen. Doch sie ließ sich von all dem nichts anmerken, während sie sich in der Eingangshalle umblickte und die dreieinhalb Meter hohe Decke registrierte, die antike Standuhr, die nicht mehr tickte. Beacon Hill war immer ihr Traumviertel gewesen, der Stadtteil von Boston, in den sie ziehen würde, wenn sie je im Lotto gewänne oder – was noch unwahrscheinlicher war – ihrem Traummann begegnete. Und dies hier hätte durchaus ihr Traumhaus sein können. Schon jetzt fielen ihr die Ähnlichkeiten zwischen diesem Tatort und dem des Yeager-Mordes auf. Eine noble Bleibe in einer noblen Wohngegend. Und der Geruch eines Gemetzels in der Luft.
»Die Alarmanlage war ausgeschaltet.«
»Außer Betrieb gesetzt?«
»Nein. Die Opfer hatten sie einfach nicht eingeschaltet. Vielleicht wussten sie ja nicht, wie man sie bedient, denn es ist schließlich nicht ihr Haus.«
»Wessen Haus ist es denn?«
Crowe blätterte in seinem Notizbuch und las vor: »Der Besitzer ist ein gewisser Christopher Harm, 62. Börsenmakler im Ruhestand. Sitzt im Kuratorium des Boston Symphony Orchestra. Verbringt den Sommer in Frankreich. Er hat den Ghents sein Haus für die Dauer ihres Engagements in Boston überlassen.«
»Ihres Engagements?«
»Sie sind beide Musiker. Sind vor einer Woche von Chicago hergeflogen. Karenna Ghent ist Pianistin, ihr Ehemann Alexander war Cellist. Heute Abend sollte ihr letztes Konzert in der Symphony Hall sein.«
Es war ihr nicht entgangen, dass Crowe von dem Mann in der Vergangenheit, von der Frau jedoch im Präsens gesprochen hatte.
Ihre Überschuhe aus Papier schleiften raschelnd über den Boden, als sie den Flur entlanggingen. Sie folgten den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer drangen. Beim Eintreten konnte Rizzoli die Leiche zunächst nicht sehen; sie war von Sleeper und Frost verdeckt, die mit dem Rücken zu ihr standen. Was sie aber sehen konnte, war die inzwischen allzu vertraute Horrorbotschaft, die in roten Lettern an die Wand geschrieben stand – wellenförmige Spritzer arteriellen Bluts. Sie musste wohl erschrocken nach Luft geschnappt haben, denn Frost und Sleeper drehten sich gleichzeitig zu ihr um. Die beiden traten zur Seite und gaben den Blick auf Dr. Isles frei, die neben dem Opfer kauerte.
Alexander Ghent saß mit dem Rücken zur Wand am Boden wie eine traurige Marionette; sein Kopf war nach hinten gesunken, und in seinem Hals klaffte eine tiefe Schnittwunde. So jung, war ihre erste geschockte Reaktion, als sie in das Gesicht mit seiner verstörend heiteren Miene starrte, in das offene blaue Auge. Er ist so furchtbar jung.
»Eine Mitarbeiterin der Symphony Hall – Evelyn Petrakas heißt sie – ist um sechs Uhr gekommen, um die beiden für ihr Konzert
Weitere Kostenlose Bücher