Der Meister
Rizzoli warf einen Blick auf die Tickets und fand den Tourneeplan, den die Agentur der Ghents arrangiert hatte.
»Sie sollten morgen weiterfliegen«, sagte sie. »Die nächste Station wäre Memphis gewesen.«
»Wie schade«, meinte Korsak. »Graceland haben sie nicht mehr zu sehen bekommen.«
Sie saß mit Korsak in dessen Wagen. Er hatte die Fenster heruntergedreht und sich eine Zigarette angezündet. Nachdem er tief inhaliert hatte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus, als der giftige Tabakrauch seine magische Wirkung in seinen Lungen zu entfalten begann. Er schien ruhiger und konzentrierter als bei seinem Eintreffen drei Stunden zuvor. Der Nikotinschub hatte offenbar seinen Verstand geschärft. Oder vielleicht hatte die Wirkung des Alkohols endlich nachgelassen.
»Haben Sie irgendwelche Zweifel, dass es sich um unseren Burschen handelt?«, fragte er.
»Nein.«
»Das Crimescope konnte keine Spermaspuren entdecken.«
»Vielleicht hat er diesmal besser aufgepasst.«
»Oder er hat sie nicht vergewaltigt«, meinte Korsak. »Und deshalb hat er auch keine Teetasse gebraucht.«
Der Rauch stieg ihr in die Nase. Sie drehte den Kopf zum offenen Fenster hin und wedelte die Schwaden mit der Hand weg. »Ein Mord folgt keinem festen Drehbuch«, sagte sie. »Jedes Opfer reagiert anders. Das ist ein Zweipersonenstück, Korsak. Der Mörder und das Opfer – jeder der beiden kann den Ausgang beeinflussen. Dr. Yeager war viel größer und kräftiger als Alexander Ghent. Vielleicht war sich unser Täter nicht so sicher, ob er Yeager körperlich gewachsen wäre, und hat deshalb das Porzellan als Warnsignal benutzt. Bei Ghent hat er das nicht für nötig gehalten.«
»Ich weiß nicht.« Korsak schnippte die Asche aus dem Fenster. »Die Sache mit der Teetasse ist schon ziemlich verrückt. Das ist so was wie sein Markenzeichen. Ich glaube kaum, dass er das einfach weglassen würde.«
»Alles andere war identisch«, stellte sie fest. »Wohlhabendes Paar. Der Mann gefesselt und als Zuschauer ins Wohnzimmer gesetzt. Die Frau entführt.«
Sie verstummten, während beiden gewiss ein und derselbe düstere Gedanke durch den Kopf ging. Die Frau. Was hat er mit Karenna Ghent gemacht!
Rizzoli glaubte die Antwort schon zu kennen. Obwohl Karennas Foto bald über die Fernsehbildschirme der ganzen Stadt flimmern und die Öffentlichkeit zur Mitarbeit aufgerufen würde, obwohl das Boston P. D. unverzüglich jedem Anruf nachgehen würde, jedem Hinweis auf eine dunkelhaarige Frau, war sich Rizzoli dennoch jetzt schon sicher, was dabei herauskommen würde. Sie konnte es fühlen – wie einen kalten Klumpen in ihrem Magen. Karenna Ghent war tot.
»Gail Yeagers Leiche wurde etwa zwei Tage nach ihrer Entführung im Wald abgeladen«, sagte Korsak. »Und der Überfall auf dieses Paar liegt jetzt schätzungsweise zwanzig Stunden zurück.«
»Stony Brook«, sagte Rizzoli. »Dorthin wird er sie bringen. Ich werde das Observierungsteam verstärken.« Sie sah Korsak an. »Können Sie sich vorstellen, dass Joey Valentine etwas mit diesem Verbrechen zu tun hatte?«
»Ich arbeite noch daran. Er hat mir schließlich doch eine Blutprobe gegeben. Die DNA-Analyse steht noch aus.«
»Das klingt nicht nach jemandem, der etwas zu verbergen hat. Beobachten Sie ihn weiter?«
»Ich habe ihn beobachtet. Bis er dann eine Klage wegen Belästigung eingereicht hat.«
»Haben Sie ihn denn belästigt?«
Korsak lachte prustend auf und stieß dabei eine Lunge voll Rauch aus. »Ein erwachsener Mann, der darauf abfährt, tote Ladys mit der Puderquaste zu bearbeiten, wird immer losheulen wie ein kleines Mädchen, ganz egal, was ich mache.«
»Wie heulen denn kleine Mädchen?«, konterte sie gereizt. »Ungefähr so wie Jungs?«
»Ach, nun kommen Sie mir doch nicht mit diesem feministischen Unsinn. Meine Tochter ist auch so drauf. Aber wenn ihr dann das Geld ausgeht, kommt sie zu ihrem Chauvi-Papa gekrochen und fleht ihn an, ihr aus der Patsche zu helfen.« Plötzlich setzte Korsak sich kerzengerade auf.
»He, sehen Sie mal, wer da kommt.«
Ein schwarzer Lincoln hatte soeben auf der anderen Straßenseite eingeparkt. Rizzoli sah Gabriel Dean aus dem Wagen aussteigen. Mit seiner athletischen Figur und seiner gepflegten Erscheinung schien er geradewegs der neuesten Ausgabe von GQ entsprungen. Er blieb stehen und blickte zu der Backsteinfassade des Hauses auf. Dann ging er auf den Polizisten zu, der die Absperrung bewachte, und zeigte ihm seine
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