Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
hingezogen gefühlt, weil die Trompete den lautesten, aufdringlichsten Klang im ganzen Orchester produzierte, so ganz anders als das Gedudel der Klarinetten und das Gesäusel der Flöten, auf denen die anderen Mädchen spielten. Nein, Rizzoli wollte gehört werden, und deshalb saß sie bei den Jungs in der Blechbläsergruppe. Sie genoss es, wenn die Töne aus dem Schalltrichter herausschmetterten.
    Leider waren es allzu oft die falschen Töne.
    Nachdem ihr Vater sie zum Üben in den Hof geschickt hatte und sämtliche Hunde der Nachbarschaft daraufhin in ein wildes Protestgeheul ausgebrochen waren, hatte sie die Trompete schließlich endgültig an den Nagel gehängt. Selbst sie konnte einsehen, dass schiere Begeisterung und kräftige Lungen kein adäquater Ersatz für musikalisches Talent waren.
    Seither hatte sie mit Musik kaum mehr verbunden als Hintergrundgeräusche in Fahrstühlen und wummernde Bässe aus vorbeifahrenden Autos. In der Symphony Hall an der Ecke Huntington/Massachusetts Avenue war sie nur zweimal in ihrem ganzen Leben gewesen, jeweils im Rahmen von Exkursionen ihrer Highschool-Klasse. Sie hatten sich Proben des Boston Symphony Orchestra angehört. Im Jahr 1990 war der Cohen-Flügel hinzugekommen, ein Teil der Symphony Hall, den Rizzoli noch nie von innen gesehen hatte. Als sie mit Frost den neuen Flügel betrat, war sie überrascht von der modernen Architektur – ganz anders als das dunkle, verstaubte Gebäude, das sie von früher in Erinnerung hatte.
    Sie zeigten dem ältlichen Wachmann ihre Ausweise, der seinen verkrümmten Rücken gleich ein wenig straffte, als er sah, dass die beiden Besucher von der Mordkommission waren.
    »Kommen Sie wegen der Ghents?«, fragte er.
    »Ja, Sir«, antwortete Rizzoli.
    »Furchtbar. Ganz furchtbar. Ich habe sie letzte Woche gesehen, da waren sie gerade in der Stadt angekommen. Sie waren kurz hier, um sich den Saal anzuschauen.« Er schüttelte den Kopf. »So ein nettes junges Paar.«
    »Hatten Sie am Abend des Konzerts Dienst?«
    »Nein, Ma’am. Ich arbeite hier nur tagsüber. Um fünf muss ich gehen, um meine Frau von der Tagespflege abzuholen. Sie braucht rund um die Uhr Betreuung, wissen Sie. Sonst vergisst sie irgendwann, den Ofen auszumachen …« Er brach plötzlich ab und errötete. »Aber Sie sind wohl nicht gekommen, um zu plaudern. Sie wollen sicher zu Evelyn?«
    »Ja. Wo geht es zu ihrem Büro?«
    »Da ist sie jetzt nicht. Ich habe sie vor ein paar Minuten in den Konzertsaal gehen sehen.«
    »Ist da im Moment eine Probe oder …?«
    »Nein, Ma’am. Im Sommer ist es hier sehr ruhig, da ist das Orchester draußen in Tanglewood. Hier haben wir um diese Jahreszeit nur ein paar Gastauftritte.«
    »Wir können also einfach in den Saal hineingehen?«
    »Ma’am, Sie haben doch Ihren Dienstausweis. Von mir aus können Sie überall reingehen.«
     
    Sie entdecken Evelyn Petrakas nicht sofort. Als Rizzoli den dunklen Zuschauerraum betrat, sah sie zunächst nichts als ein gewaltiges Meer von leeren Sitzreihen, die schräg zu der hell erleuchteten Bühne hin abfielen. Angezogen vom Licht begannen sie die Stufen hinunterzugehen. Die Holzdielen knarrten unter ihren Schritten wie die Planken eines alten Schiffs. Sie hatten bereits die Bühne erreicht, als sie hinter sich eine schwache Stimme rufen hörten: »Kann ich Ihnen helfen?«
    Rizzoli drehte sich um und musste die Augen zusammenkneifen, als sie gegen das Scheinwerferlicht zu den hinteren Sitzreihen hinaufblickte. »Miss Petrakas?«
    »Ja?«
    »Ich bin Detective Rizzoli. Das hier ist Detective Frost. Dürften wir Sie sprechen?«
    »Ich bin hier. In den letzten Reihe.«
    Sie gingen zwischen den Sitzreihen hindurch zu ihr hoch. Evelyn stand nicht auf, sondern blieb zusammengekauert sitzen, als ob sie sich vor dem Licht verstecken wollte. Sie begrüßte die Detectives mit einem müden Nicken, als sie auf den beiden Sitzen neben ihr Platz nahmen.
    »Ich habe schon mit einem Polizisten gesprochen. Gestern Abend«, sagte Evelyn.
    »Detective Sleeper?«
    »Ja, ich glaube, so hieß er. Ein älterer Mann, ganz nett. Ich weiß, ich hätte mich noch für weitere Befragungen bereithalten sollen, aber ich musste irgendwann gehen. Ich konnte einfach nicht länger in diesem Haus bleiben …« Sie blickte auf die Bühne, als ob sie gebannt eine Aufführung verfolgte, die nur sie sehen konnte. Selbst im Halbdunkel konnte Rizzoli erkennen, dass sie ein attraktives Gesicht hatte. Sie mochte um die vierzig sein, mit dunklen, von

Weitere Kostenlose Bücher