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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Aspekt seines Todes vertraut machen wollte, musste sie ebenso über sein Leben Bescheid wissen. Und ein großer Teil seines Lebens war die Musik gewesen.
    Ghents Bogen glitt über die Saiten des Cellos, und die Melodie von Bachs Suite Nr. 1 in G-Dur wogte auf und ab wie Meereswellen. Ghent war erst achtzehn Jahre alt gewesen, als er dieses Stück eingespielt hatte, als er im Studio gesessen hatte und seine warmen, lebendigen Finger den Bogen gehalten und die Saiten niedergedrückt hatten. Dieselben Finger lagen nun bleich und kalt im Kühlfach des Leichenschauhauses. Ihre Musik war für immer verstummt. Als sie am Morgen bei der Obduktion zugesehen hatte, waren ihr vor allem die langen, schlanken Finger aufgefallen, und sie hatte sich vorgestellt, wie sie flink über das Griffbrett des Cellos getanzt waren. Dass der Kontakt einer Menschenhand mit Saiten und Holz einen so vollen, warmen Klang hervorbringen konnte, schien wie ein Wunder.
    Sie griff nach der CD-Hülle und betrachtete das Foto des jugendlichen Alexander Ghent. Er hatte den Blick gesenkt und den linken Arm um das Instrument geschlungen, als ob er seine Kurven liebkosen wollte. So hatte er später auch seine Frau Karenna im Arm gehalten. Rizzoli hatte nach CDs mit gemeinsamen Aufnahmen der Ghents gesucht, doch in der Boutique waren sämtliche Duoalben der beiden ausverkauft gewesen. Nur Solo-CDs von Alexander waren noch zu bekommen. Das einsame Cello, das nach seiner Partnerin rief. Und wo war diese Partnerin nun? War sie noch am Leben, durchlitt sie in diesem Moment die Qualen einer zum sicheren Tod Verdammten? Oder war sie schon jenseits aller Schmerzen und Leiden, eine Leiche im Frühstadium der Verwesung?
    Das Telefon klingelte. Sie stellte die Musik leiser und nahm den Hörer ab.
    »Sie sind ja doch zu Hause«, sagte Korsak.
    »Ich bin heimgefahren, um zu duschen.«
    »Ich habe vor ein paar Minuten schon mal angerufen. Sie sind nicht drangegangen.«
    »Dann habe ich es wohl nicht klingeln gehört. Was gibt’s Neues?«
    »Das wüsste ich auch gerne.«
    »Wenn irgendetwas ist, rufe ich zuerst Sie an.«
    »Na klar doch. Haben Sie heute auch nur ein Mal versucht, mich zu erreichen? Ich habe das mit Joey Valentines DNA erst von dem Laborfritzen erfahren.«
    »Ich bin nicht dazu gekommen, Ihnen Bescheid zu sagen. Ich bin wie eine Irre in der Gegend herumgehetzt.«
    »Vergessen Sie nicht, dass ich es war, der Sie überhaupt erst auf diesen Fall aufmerksam gemacht hat.«
    »Das habe ich nicht vergessen.«
    »Wissen Sie«, sagte Korsak, »dass inzwischen fast fünfzig Stunden vergangen sind, seit er sie entführt hat?«
    Und Karenna Ghent ist höchstwahrscheinlich schon zwei Tage tot, dachte sie. Nicht, dass es ihren Mörder davon abhalten würde, sich weiter an ihr zu vergehen. Es würde seinen Appetit nur noch mehr anregen. Er würde ihre Leiche betrachten und in ihr bloß ein Lustobjekt sehen. Ganz und gar seiner Willkür unterworfen. Sie leistet keinen Widerstand. Sie ist nur kühles, passives Fleisch, das alle erdenklichen Demütigungen über sich ergehen lässt. Sie ist die perfekte Geliebte.
    Immer noch lief die leise Musik auf dem CD-Spieler, immer noch erfüllten die melancholischen Zauberklänge von Alexanders Cello den Raum. Sie wusste genau, worauf dieses Gespräch hinauslief; was Korsak wirklich von ihr wollte. Und sie wusste nicht, wie sie ihn abweisen konnte. Sie stand vom Sofa auf und schaltete die Anlage aus. In der Stille, die folgte, schienen die Klänge des Cellos immer noch nachzuhallen.
    »Wenn es so läuft wie beim letzten Mal, wird er sie heute Nacht wegbringen«, sagte Korsak.
    »Wir werden ihn erwarten.«
    »Also, bin ich nun dabei oder nicht?«
    »Wir haben schon unser Observierungsteam vor Ort.«
    »Aber mich haben Sie nicht. Sie könnten ganz sicher noch jemanden gebrauchen.«
    »Wir haben schon alle Posten besetzt. Hören Sie, ich rufe Sie sofort an, wenn sich irgendetwas…«
    »Sparen Sie sich doch bitte dieses Gerede von wegen ›Ich rufe Sie an!‹ Ich habe nicht vor, neben dem Telefon zu hocken und auf Ihren Anruf zu warten wie irgendein Mauerblümchen. Ich kenne diesen Täter schon länger als Sie, länger als irgendwer sonst. Wie würde Ihnen das denn gefallen, wenn Ihnen jemand so ins Handwerk pfuschen würde? Und Sie dann beim entscheidenden Zugriff nicht dabei haben wollte? Denken Sie mal darüber nach.«
    Das tat sie. Und sie verstand, warum er so wütend und aufgebracht war. Sie verstand es besser als irgendjemand

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