Der Meister
das nicht zum ersten Mal gemacht.«
»Kommen Sie, Detective. Untersuchen Sie die Wunde«, forderte Dr. Tierney sie auf.
Sie zögerte. Ihre Hände fühlten sich in den Latexhandschuhen eiskalt an. Langsam schob sie die Rechte in die Wunde, tief in Karenna Ghents Beckenhöhle hinein. Sie wusste genau, was sie finden würde, und doch war die Entdeckung wie ein Schock. Sie sah Dr. Tierney an und las die Bestätigung an seinen Augen ab.
»Der Uterus wurde entfernt«, sagte er.
Sie zog die Hand aus dem Becken der Toten. »Das war er«, sagte sie. »Warren Hoyt hat das getan.«
»Und doch weist alles andere auf den Dominator hin«, wandte Gabriel Dean ein. »Die Entführung, das Erwürgen des Opfers, der postmortale Geschlechtsverkehr…«
»Aber nicht das hier«, sagte sie, den Blick starr auf die Wunde gerichtet. »Das ist Hoyts Fantasie. Das ist es, was ihn erregt. Das Schneiden, das Entfernen des Organs, das die Opfer als Frauen definiert und ihnen eine Macht gibt, die er niemals besitzen wird.« Sie sah Dean direkt in die Augen. »Ich kenne sein Werk. Ich habe es schon mit eigenen Augen gesehen.«
»Das haben wir beide«, sagte Dr. Tierney zu Dean. »Ich habe letztes Jahr die Autopsien an Hoyts Opfern durchgeführt. Das ist seine Technik.«
Dean schüttelte ungläubig den Kopf. »Zwei verschiedene Täter? Die ihre Techniken kombinieren?«
»Der Dominator und der Chirurg«, sagte Rizzoli. »Sie haben sich gefunden.«
14
Sie saß in ihrem Wagen. Aus der Klimaanlage strömte warme Luft, und in ihrem Gesicht standen Schweißperlen. Aber nicht einmal die schwüle Hitze der Nacht konnte das Frösteln vertreiben, das sie dort im Obduktionssaal befallen hatte. Ich muss mir einen Virus eingefangen haben, dachte sie, während sie sich die Schläfen massierte. Es wäre kaum verwunderlich gewesen; schließlich hatte sie seit Tagen nur Vollgas gegeben, und jetzt stieß sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Ihr Kopf schmerzte, und sie wollte sich nur noch im Bett verkriechen und eine Woche durchschlafen.
Sie fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause. In ihrer Wohnung angekommen, vollführte sie wieder das Ritual, das für die Wahrung ihres psychischen Gleichgewichts so wichtig geworden war: das Vorlegen der Riegel, das Einführen der Kette in ihre Schiene – alles Handlungen, die sie sehr bewusst und sorgfältig ausführte. Erst nachdem sie ihre persönliche Sicherheits-Checkliste abgehakt hatte, nachdem sie alles abgeschlossen und in jedem Zimmer und jedem Schrank nachgesehen hatte, streifte sie sich endlich die Schuhe von den Füßen und zog Hose und Bluse aus. In BH und Slip ließ sie sich auf das Bett sinken, massierte sich wieder die Schläfen und versuchte sich zu erinnern, ob in der Hausapotheke noch Aspirin war. Sie war einfach zu erledigt, um noch einmal aufzustehen und nachzusehen.
Der Summer der Gegensprechanlage ertönte. Sofort richtete sie sich kerzengerade auf; ihr Herz begann zu rasen, sämtliche Nerven schienen vor Anspannung zu glühen. Sie erwartete niemanden, und sie wollte auch niemanden sehen.
Wieder zerriss der laute Summerton die Stille; es war, als ob Stahlwolle über ihre blanken Nervenenden schrubbte.
Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer und drückte die Sprechtaste. »Ja?«
»Gabriel Dean hier. Darf ich raufkommen?«
Er war der letzte Mensch, dessen Stimme sie zu hören erwartet hätte. Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Moment gar nichts sagte.
»Detective Rizzoli?«
»Worum geht es, Agent Dean?«
»Um die Autopsie. Es gibt da das eine oder andere, über das wir reden müssen.«
Sie betätigte den Türöffner und wünschte fast im gleichen Augenblick, sie hätte es nicht getan. Sie traute Dean nicht, und doch war sie drauf und dran, ihn in ihre Wohnung einzulassen, in ihr sicheres Refugium. Ein unbedachter Druck auf eine Taste, und die Entscheidung war gefallen. Jetzt war es zu spät, es sich noch einmal anders zu überlegen.
Sie hatte gerade noch Zeit, sich einen Frottee-Bademantel überzuziehen, bevor er an die Tür klopfte. Durch das Fischauge des Spions erschienen seine kantigen Züge verzerrt. Bedrohlich. Bis sie mit dem Aufschließen der diversen Schlösser fertig war, hatte dieses grotesk verzerrte Bild sich schon in ihrem Kopf festgesetzt, doch die Wirklichkeit war weit weniger beängstigend. Der Mann, der vor ihrer Tür stand, hatte müde Augen und ein Gesicht, dem die erlebten Gräuel und der Schlafmangel deutlich anzusehen waren.
Doch seine erste Frage galt ihr:
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