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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hätte sie sich in einer solchen Situation zur Wehr gesetzt. Früher war sie energisch genug gewesen, es jedem Mann, der sie an die Wand zu reden versuchte, mit gleicher Münze heimzuzahlen. Aber heute Abend war sie müde, so unendlich müde, und sie hatte nicht die Kraft, Deans Fragen abzuwehren. Er würde immer weiter drängen und bohren, bis er die Antworten hatte, die er wollte, und sie konnte sich ebenso gut gleich in das Unvermeidliche fügen – es einfach hinter sich bringen, damit er sie endlich in Ruhe ließ.
    Sie setzte sich gerade auf und merkte, dass sie ihre Hände anstarrte – die zwei identischen Narben auf ihren Handtellern. Es waren die äußerlich sichtbaren Andenken, die Hoyt ihr hinterlassen hatte; die anderen Narben waren nicht so leicht zu sehen: zum einen die verheilten Frakturen der Rippen und der Gesichtsknochen, die auf Röntgenbildern noch zu erkennen waren. Und dann die unsichtbaren Bruchlinien, die sich nach wie vor durch ihr Leben zogen, wie Risse im Asphalt nach einem Erdbeben. In den letzten paar Wochen hatte sie gefühlt, wie diese Risse sich geweitet hatten, bis es schien, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.
    »Ich wusste nicht, dass er noch da war …«, flüsterte sie. »Dass er direkt hinter mir stand. In diesem Keller. In diesem Haus …«
    Er setzte sich in den Sessel gegenüber von ihr. »Sie sind es gewesen, die ihn gefunden hat. Die Einzige in der ganzen Truppe, die wusste, wo man ihn suchen musste.«
    »Ja.«
    »Wieso?«
    Sie zuckte mit den Achseln, lachte. »Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.«
    »Nein, es kann nicht nur Glück gewesen sein.«
    »Überschätzen Sie nicht meine Fähigkeiten.«
    »Ich glaube, ich habe Sie bislang eher unterschätzt, Jane.«
    Sie blickte auf und sah, dass er sie anstarrte. Sie hätte sich am liebsten verkrochen, aber es gab keine Rückzugsmöglichkeit, keinen Schutz gegen diesen alles durchdringenden Blick. Wie viel kann er sehen?, fragte sie sich. Weiß er, wie schutzlos und ausgeliefert ich mich in seiner Gegenwart fühle?
    »Erzählen Sie mir, was in dem Keller passiert ist«, sagte er.
    »Sie wissen, was passiert ist. Es steht in meiner Aussage.«
    »Manchmal wird in einer Aussage etwas weggelassen.«
    »Es gibt dazu nichts weiter zu sagen.«
    »Wollen Sie es nicht wenigstens versuchen?«
    Sie explodierte vor Wut. »Ich will nicht daran denken!«
    »Und dennoch gelingt es Ihnen nicht, das Geschehene zu verdrängen. Oder?«
    Sie starrte ihn an und fragte sich, welches Spiel er eigentlich spielte – und wie sie sich so leicht hatte um den Finger wickeln lassen. Sie hatte schon andere Männer mit diesem besonderen Charisma kennen gelernt, Männer, die einer Frau so blitzschnell den Kopf verdrehen konnten, dass ihr ganz schwindlig davon wurde. Rizzoli war immer so vernünftig gewesen, sich von solchen Typen fernzuhalten und sie ganz einfach als genetisch begünstigte Wesen zu betrachten, die mit gewöhnlichen Sterblichen wenig gemein hatten. Sie konnte mit solchen Männern wenig anfangen, und das traf auch umgekehrt zu. Aber heute Abend besaß sie etwas, was Gabriel Dean brauchte, und er ließ sie seine geballte erotische Anziehungskraft spüren. Und es funktionierte. Nie zuvor hatte ein Mann es geschafft, sie so durcheinander zu bringen und zugleich so sehr zu erregen.
    »Er hat Sie dort in dem Keller in eine Falle gelockt«, sagte Dean.
    »Und ich bin schnurstracks hineingetappt. Ich hatte keine Ahnung.«
    »Wieso nicht?«
    Es war eine verblüffende Frage, und sie musste innehalten und darüber nachdenken. Sie erinnerte sich an jenen Nachmittag, als sie vor der offenen Kellertür gestanden hatte, voller Panik bei dem Gedanken, diese dunkle Treppe hinuntergehen zu müssen. Sie erinnerte sich an die stickige Hitze in dem Haus, den Schweiß, der ihren BH und ihre Bluse durchtränkt hatte. Die Angst, die jeden Nerv in ihrem Körper zum Glühen gebracht hatte. Ja, sie hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte gewusst, was sie am Fuß der Treppe erwartete.
    »Was ist Ihnen dazwischengekommen, Detective?«
    »Das Opfer«, flüsterte sie.
    »Catherine Cordell?«
    »Sie war dort unten im Keller. An eine Pritsche gefesselt …«
    »Der Köder.«
    Sie schloss die Augen und konnte geradezu Cordells Blut riechen, den Modergeruch der feuchten Erde. Und ihren eigenen säuerlichen Angstschweiß. »Ich habe angebissen. Ich habe den Köder angenommen.«
    »Er wusste, dass Sie das tun würden.«
    »Ich hätte merken

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