Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Memory Code

Der Memory Code

Titel: Der Memory Code Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
Vom Netzwerk:
Spannung, lehnte sie sich rücklings in seine Umarmung und spürte wieder jenen Widerstreit von Begehren und Bangen, den er in ihr auslöste.
    “Schätze wie dieser hier”, dozierte er, “die so lange vor der Öffentlichkeit verborgen waren, die strahlen eine besondere Aura aus. Fast so, als würde ihnen eine Seele eingehaucht, als wüssten sie, dass sie endlich betrachtet werden. Umso mehr zeigen sie sich von ihrer schönsten Seite – wie du! Was für eine erfreuliche Überraschung, dich hier zu sehen, Rachel!”
    Sie drehte sich in seiner Umarmung und sah ihn lächelnd an. “Ich wusste auch nicht, dass du hier bist.”
    “Bist du allein gekommen?”
    “Nein, mit meinem Onkel.”
    Sie war sich zwar nicht sicher, hatte jedoch das Gefühl, als zögen sich Harrisons Augen daraufhin unmerklich zusammen. Im Grunde durfte sie darüber auch nicht verwundert sein. Trotz der Nettigkeiten, die damals an dem Abend bei der Begegnung im Metropolitan Museum ausgetauscht worden waren, hatten beide Herren ihr im Vertrauen verraten, dass sie sich gegenseitig nicht sonderlich mochten und sich auch nicht über den Weg trauten. Wieder so eine Komplikation, die ihr Kopfzerbrechen bereitete.
    In die Betrachtung der Skizze versunken, bemerkte Harrison anscheinend nicht, wie hingerissen Rachel ihm zusah. Dass er ein so versierter Kunstliebhaber war, gehörte zu den Gründen, die ihn in ihren Augen so attraktiv erscheinen ließen.
    “Stell dir mal vor”, murmelte er sinnend, “bis heute Abend war diese Skizze über hundert Jahre lang ein Geheimnis, von dem kaum einer etwas wusste.”
    Rachel fühlte, wie sich ein erstes gespanntes Kribbeln in ihr zu regen begann. Dann setzte das Vibrieren ein; der Strich des Künstlers, auf der Skizze noch ockerbraun wie Terrakotta, flammte auf einmal auf und züngelte in orangefarbenen, gelben und roten Tönen, die sich zu einem Farbenbogen fächerten, der Rachel magisch anzog und mit sich fortriss. Das Stimmengewirr in der Galerie löste sich auf. Ihr war, als schrumpfe sie immer mehr zusammen, als werde sie verschwindend klein. Und nichts aus dem Jetzt und Hier übertrug sich in jenes andere Dort, nichts bis auf eines: das Gefühl seines Armes um ihre Taille.

53. KAPITEL
    R om, Italien – 1884
    Draußen im Garten, die Ewige Stadt zu ihren Füßen und Blackies Arm um die Taille, stellte Esme zu ihrer Erleichterung fest, dass sich die schlechte Laune, die Blackie die letzten zwei Wochen ausgestrahlt hatte, allmählich legte. Er, der sich seit ihrer ersten Begegnung damals vor Monaten bei einer der New Yorker Soirées ihres Onkels geradezu als Muster an Aufmerksamkeit ihr gegenüber gezeigt hatte, war nämlich in letzter Zeit nicht mehr wiederzuerkennen. Er gab sich dermaßen distanziert und launisch, dass sie schon in Erwägung zog, die Beziehung abzubrechen, wenn das so weiterging mit seinen Stimmungsschwankungen. Seine jetzige Ausgelassenheit empfand sie als mindestens ebenso lindernd wie die Brise, welche die erdrückende Hitze Italiens etwas erträglicher machte.
    Sie war froh, dass sich Tante Iris, ihre Anstandsdame, wie üblich schon früh für den Rest des Abends zurückgezogen hatte. So konnte Esme mit ihrem Geliebten allein sein.
Ihrem Geliebten.
Immer noch überlief sie ein Frösteln bei diesem Wort.
    Von den Damen der New Yorker Society, mit denen ihre Mutter vorzugsweise zu verkehren pflegte, hätte sich wohl kaum eine getraut, ein solches Verhältnis einzugehen. Die weiblichen Wesen aber, mit denen Esme sich umgab und Kunstgeschichte sowie Malerei studierte, die hielten sich für eine Avantgarde und betrachteten es geradezu als unerlässlich, sich den herrschenden Regeln und Konventionen zu widersetzen. Nur so erwies man sich als wahre Muse der Kunst.
    “Das muss man sich mal vorstellen”, jubelte er. “Bis heute war dieser Schatz ein Geheimnis, von dem so gut wie keiner etwas ahnte. Über tausend Jahre lang!” Blackie, ein gereifter, überaus erfolgreicher Eisenbahnmagnat und zwanzig Jahre älter als Esme, lachte ausgelassen wie ein Kind. Ob das denn nicht die schönste Nachricht sei, die sie je gehört habe, fragte er sie und küsste sie.
    Während der vergangenen Wochen hatte er sich noch bitter beklagt, man habe ihn auf den Arm genommen. Ja, nicht nur ihn, sondern sämtliche Klubmitglieder. Dieser Wallace Neely, der nehme jedermann aus bis aufs letzte Hemd.
    Wie sich ein Mann doch ändern kann, wenn er erreicht, was er sich vorgenommen hat!
    “Was hat er denn gefunden?”,

Weitere Kostenlose Bücher