Der Memory Code
Spur der Entführer. “Jetzt pass mal auf, Gabriella! Du hast selber gesagt, das sind Killer, und …”
Sie hörte ihm gar nicht zu, sondern redete einfach weiter, zu schnell und zu laut. “Kann ich nicht! Ich kann nur eins: Tun, was die sagen. Etwas anderes geht nicht. Wenn du mir nicht helfen willst, dann mach, dass du fortkommst! Raus!”
“Ich will dir ja helfen!”, gab Josh leise zurück, bemüht, sie zu beruhigen, wenngleich sie sich nicht beruhigen ließ. “Natürlich helfe ich dir!”, wiederholte er. Diesmal drang er wohl endlich zu ihr durch, denn sie holte Luft.
“Woher wusstest du eigentlich, was passiert ist?”, fragte sie plötzlich. “Wer hat es dir gesagt?”
“Niemand. Ich weiß auch nicht, aber ich hatte so ein komisches Gefühl … ist ja auch egal. Komm, setz dich, ich hole dir ein Glas Wasser. Und dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist.”
Er begleitete sie zur Couch, wo sie sich brav hinsetzte, dann aber postwendend wieder hochschoss und zum Flur rannte. “Ich muss unbedingt nachgucken, ob sie ihren Teddy hat …” Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe hinauf. “Ihr Vater hat ihn mir gegeben, als ich schwanger war. Sie weiß, dass es ein Geschenk von ihm ist, und ohne ihren Bären tut sie keinen Schritt. Nie!”
Josh folgte ihr ins Kinderzimmer, wo sie hektisch zu suchen begann: Im Kinderbett und darunter, unter den Decken, in der Spielzeugkiste. Er wusste, wieso sie nach dem Schmusetier forschte. Hatte die Kleine den Teddy mitgenommen, so hieß dies, dass sie beim Verlassen des Hauses noch am Leben war.
“Er ist weg”, sagte sie und rang sich durch den Tränenschleier ein herzergreifendes Lächeln ab.
52. KAPITEL
N ew York City – Dienstag, 17:50 Uhr
Rachel sah ihrem Onkel Alex zu, der gerade einen Zweig von einem Benjamini abzwickte. Zu den Gemeinsamkeiten ihres Onkels und ihrer Tante hatte auch die Passion für Bonsai gehört, und nun oblag ihm allein die Pflege der uralten Bäumchen, die zu Dutzenden überall in der Villa herumstanden. Er kam dieser Pflicht mit einer weihevollen Andacht nach, als wäre es ein Besuch am Grabe seiner verstorbenen Frau.
Rachel, die im Durchgang zum Wohnzimmer stand, unterbrach ihn nur ungern, aber er hatte angekündigt, er wolle um sechs Uhr los. Im Augenblick widmete er sich einem Gewächs, das zwar einhundertzwanzig Jahre alt, aber nur gut vierzig Zentimeter hoch war, und bei dem Anblick wünschte sie sich wie so oft in seiner Gegenwart, sie könnte ihm besser über den Verlust hinweghelfen.
Jetzt legte er die Gartenschere beiseite, trat einen Schritt zurück und inspizierte die Konturen des Bäumchens. Offenbar zufrieden mit seiner Verschönerungsarbeit, machte er sich daran, die Schnittabfälle aufzusammeln.
“Onkel Alex?”, rief sie leise.
Er drehte sich um. Nur für Sekunden sah man den in seine Züge eingefurchten Kummer, ehe sich ein Vorhang über die Trauer senkte und das Gesicht wieder die gewohnte gleichmütige Miene annahm. Rachels Tante hatte ihr einmal verraten, ihr Mann sei nur deshalb geschäftlich so erfolgreich geworden, weil er es meisterhaft verstehe, sich zu verstellen. “
Er kann seine Gefühle dermaßen gut verbergen, dass kein Mensch ahnt, was in ihm vorgeht. Nicht mal ich. Ehrlich gesagt wird einem das manchmal beunruhigend.”
“Müssen wir los?”, fragte er. “Ich freue mich schon riesig darauf.”
Als sie eine Viertelstunde später durch die Galerie Albert Rand bummelten, war Rachel doch froh, dass sie mitgekommen war. Es wäre jammerschade gewesen, hätte sie diese private Vernissage verpasst, zeigte sie doch lauter gezeichnete Meisterwerke, unter anderem einen Tintoretto, einen Raphael und als Krönung des Ganzen: eine Skizze von Michelangelo.
Selbst die anspruchsvolle und verwöhnte Kunstszene, die bei einer Eröffnung oft kaum Augen für die an den Wänden hängenden Werke hatte, geriet angesichts dieser Seltenheiten ins Schwärmen. Sie stammten aus einem Nachlass und wurden nach über hundert Jahren zum ersten Mal wieder dem Fachpublikum präsentiert.
Vor dem Michelangelo stehend, begutachtete Rachel den Rohentwurf eines nackten Mannes, der mit dem Rücken zum Betrachter am Boden kauerte und dabei eine Pose einnahm, die an eine der Sklavenskulpturen gemahnte.
“Unglaublich, was?”, sagte Harrison, indem er Rachel von hinten die Arme um die Taille schlang und sie an sich zog. Sie hatte nicht gewusst, dass er ebenfalls kommen würde. Erschauernd vor erotischer
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