Der Memory Code
erkundigte sie sich, nachdem sie die Terrasse verlassen und es sich drinnen bei einem starken italienischen Kaffee, der ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden war, gemütlich gemacht hatten.
“Die Kammer ist sehr klein, was darauf schließen lässt, dass es sich nicht um das Grab einer herausragenden Persönlichkeit handelt. Dennoch hortet es einen der bedeutendsten Schätze, die man in den letzten Jahrhunderten gefunden hat.”
“Hast du ihn denn schon mit eigenen Augen gesehen?”, forschte sie.
“Das nicht, aber Neely bringt ihn heute Abend her. Eigentlich wollte er nicht; er hat sein eigenes Zeremoniell. Ich habe ihm aber zu verstehen gegeben, es gäbe keine Feier ohne die Objekte selbst, die da gefeiert werden.”
“Hast du an die Mitglieder des Klubs telegrafiert? Damit sie Bescheid wissen?”
“Das kann warten, bis ich die Objekte selber begutachtet habe”, sagte er und betrachtete dabei seine Hände, als greife er schon nach dem märchenhaften Kleinod. “Ich will sie erst anfassen. Es heißt, der Schatz berge den Schlüssel, mit dem sich das Geheimnis der Rückführung in frühere Leben erklären lässt.”
Esme verstand beim besten Willen nicht, was ihn oder die anderen Klubmitglieder so an der Erforschung von Seelenwanderungen faszinierte. Dabei hatten sie doch alle in ihrem jetzigen Leben außerordentliche Erfolge vorzuweisen! Was interessierte es sie da, wer sie womöglich früher einmal gewesen waren? Sofern es dieses “früher” überhaupt gab! Reichte es ihnen denn nicht, dass sie alles besaßen, was sie sich wünschten, und zu den einflussreichsten Persönlichkeiten von New York gehörten? Von Amerika gar, wie manche meinten?
Selbst ihr Bruder Percy hatte offenbar nur noch diese römische Ausgrabung im Kopf, allerdings aus anderen Gründen als die Klubmitglieder: Er befürchtete Verwicklungen, falls der Archäologe auf das stieß, wonach er suchte – was er unbedingt finden sollte, so es nach dem Phoenix Klub ging. Esme hatte in diesem Sommer beängstigende Briefe von Percy bekommen. In zittriger, krakeliger Handschrift hatte er seitenweise Verdächtigungen gegen seinen Onkel vorgebracht, der ja nun gleichzeitig ihr Stiefvater war, und offenbar machte er sich auch Sorgen um ihr Wohlergehen. Er sei oft krank, so schrieb er, und leide an plötzlichen, heftigen Magenproblemen, die kein Arzt so recht diagnostizieren könne. Bis vor drei Wochen waren seine Schreiben regelmäßig eingetroffen, aber dann hatten sie abrupt aufgehört. Möglicherweise, so hoffte sie insgeheim, befand er sich auf Reisen, vielleicht sogar hierher nach Rom, um seine Schwester zu besuchen und sich zu erholen.
“Bist du denn nicht neugierig?”, fragte Blackie jetzt. “Interessiert es dich nicht, wer du in der Vergangenheit warst?”
“Jesus ist wiederauferstanden. Mutter meint, mehr brauche ich über die Wiederkehr der Toten nicht zu wissen.”
“Aber ein klein wenig neugierig bist du doch, hm?”
“Ein bisschen vielleicht.”
Lachend zog er sie an sich, und während der Schein der Spätnachmittagssonne durch die Vorhänge sickerte, küsste er Esme auf den Mund. Der Druck der Vorstellung, er könnte sich mit der Grabung geirrt haben, muss schwer auf ihm gelastet haben, dachte sie. Es war lange her, seit er so zärtlich zu ihr gewesen war.
Mit den Lippen zog er eine Spur von ihrem Mund hinunter zum Hals, während er ihr gleichzeitig mit einem Ruck das Mieder ihres lavendelblauen Kleides herunterzog und dadurch ihre Brüste entblößte. Sie erschauerte. Mit der Zungenspitze liebkoste er die Haut um ihre Knospen, und als die Brise wieder durchs Fenster wehte, da spürte Esme den kühlen Hauch auf der feuchten Haut. Mit beiden Händen ihre Brüste umfassend, hielt er sie wie kostbare Juwelen. “Du bist so schön!”, wisperte er, um sich dann über sie zu beugen und sie abermals auf den Mund zu küssen.
Blackie war verheiratet und hatte drei Kinder. Er behauptete immer, bevor er Esme begegnet sei, habe er sich nie wahllos Mätressen gehalten, nur um seine Fähigkeiten als Liebhaber unter Beweis zu stellen. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern von seinem gesellschaftlichen Rang folgte er moralischen Richtlinien.
Damals hatte Esme gelacht und ihn einen moralischen Verbrecher genannt.
Genau dann nämlich war sie mit ihm am glücklichsten: Wenn er mit seinen sittlichen Prinzipien rang und dabei ein ums andere Mal unterlag. Zu erleben, wie er sich ihrem Zauber willenlos auslieferte, war ihr jedes Mal ein
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