Der Memory Code
seiner Livree. Doch nein, Knöpfe waren es gar nicht! Er hielt vielmehr etwas Blitzendes in der Hand!
Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als würden die beiden Männer in der Bewegung verharren. Regungslos. In der Ferne schrie ein Waldkauz, ansonsten war kein Laut zu hören. Dann sackte Neely ganz langsam zu Boden.
Das kam Esme zwar etwas unheimlich vor, aber ungewöhnlich war es nicht. Schließlich war der Archäologe stark angetrunken.
Der Kutscher bückte sich, als wolle er dem Liegenden aufhelfen. Na, Gott sei Dank! Aber wieso ging er so grob mit ihm um? Er schüttelte ihn heftig, doch Neely rührte sich nicht. Der Kutscher ließ ihn wieder zu Boden sinken, versetzte ihm einen Tritt und dann gleich noch einen. Was fiel dem Kerl ein? Was ging hier vor? Als Neely weiterhin kein Lebenszeichen von sich gab, riss ihm der angebliche Kutscher die Tasche aus der Hand, ließ den blutüberströmten, verkrümmten Neely auf dem Rasen liegen und kletterte hastig auf den Kutschbock.
“So helfen Sie ihm doch!”, entfuhr es Esme.
Der Kutscher knallte mit der Peitsche.
“Hilfe! Warum hilft ihm denn keiner?” Doch Esmes Stimme wurde übertönt vom Klappern der Hufe, das bald schon die Nacht erfüllte.
54. KAPITEL
N ew Haven, Connecticut – Dienstagabend, 21:55 Uhr
Gabriella versuchte die nächste halbe Stunde lang, Alice Geller ans Telefon zu bekommen. Alice war Dozentin für antike Sprachen und Kulturen an der Universität Princeton. Nach Gabriellas fester Überzeugung würde sie in der Lage sein, die Zeichen auf den Steinen zu entziffern. Sie rief alle zehn Minuten bei ihr an und wurde aber frustrierter und unruhiger, je mehr Zeit verging.
“Wenn Alice nach Hause kommt und deine Nachrichten bekommt, ruft sie sicher gleich zurück”, versicherte Josh ihr, um sie zu beruhigen.
“Das dauert mir zu lange. Ich kann nicht mehr warten. Ich werde zu ihr fahren und ihr die Fotos vorbeibringen.”
“Ginge das per E-Mail nicht schneller?”
“Sie hat daheim keinen Computer, und ich kann unmöglich warten, bis sie morgen früh in ihrem Büro ist.”
“Gut, dann fahre ich mit.”
Drei Stunden später erreichten die beiden Princeton, New Jersey. Josh hatte sich nicht davon abbringen lassen, selber zu fahren, hoffte er doch, er könne die Zeit nutzen und Gabriella dazu bewegen, die Polizei einzuschalten. Sie aber zeigte sich so unerbittlich wie der Regen und wiederholte nur immer wieder, damit bringe sie ihre Tochter bloß noch mehr in Gefahr. Sie rang ihm sogar das Versprechen ab, Stillschweigen über die Entführung zu bewahren.
“Okay”, gab er widerwillig nach. “Aber nur, wenn du deinen Vater anrufst und ihn bittest, nach Hause zu kommen und bei dir zu bleiben.”
Peter Chase war am frühen Morgen zu einer Vortragsreihe nach Spanien aufgebrochen. “Er hat ein Herzleiden”, wandte Gabriella ein. “Das ist genau die Sorte von Nachricht, die gefährlich werden könnte, während er Zigtausend Meilen fort ist und nichts tun kann. Er ist ganz vernarrt in Quinn.” Eine Weile starrte sie schweigend durchs Seitenfenster. “Im Übrigen kann er mir sowieso nicht helfen. Was ich jetzt vor allen Dingen brauche, ist eine Übersetzung der Zeichen.”
Als Alice die Tür öffnete, reichte ihr ein Blick auf die Freundin, um sie erst einmal in die Arme zu nehmen. Es war ein dermaßen fühlbarer und ausdrucksstarker Sympathiebeweis, dass Josh befürchtete, Gabriella würde die Fassung verlieren.
“Was führt dich denn zu solch nachtschlafender Zeit her?”, fragte Alice, während sie die beiden hereinbat. “Seit ich von der Sache in Rom erfahren habe, mache ich mir die größten Sorgen. Du bist doch sicher am Boden zerstört.”
Gabriella war den Tränen nahe, verbiss sie sich aber. “Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie furchtbar das war.”
Josh wusste, wie sehr das stimmte. Er legte ihr den Arm um die Schulter, und gemeinsam folgten sie Alice durch die Diele ins Wohnzimmer.
Hochgewachsen und kräftig gebaut, trug Alice mehrere Lagen Kleidung übereinander, sodass überall Zipfel oder Säume hervorlugten, als wären es Andeutungen von Geheimnissen. Ebenso vielschichtig wie ihre Garderobe war ihre Einrichtung – ein Schaukasten der antiken Artefakte und Kunstgegenstände, die sie in ihrer langen wissenschaftlichen Laufbahn zusammengetragen hatte. Während die Hausherrin in der Küche Tee aufsetzte, berichtete Gabriella ihr, sie benötige Hilfe bei einer Übersetzung, die entscheidend sei für eine
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