Der Memory Code
Kleine hatte zugehört; einige der Ausdrücke, die die beiden Erwachsenen benutzt hatten, waren ihr vertraut. Sie guckte ihren Entführer an. “Kannst du dich an viel erinnern?”
“An ’ne ganze Menge.”
“Was ist ’ne ganze Menge?”
“Na, ich entsinne mich noch an so einiges.”
“Von früher? Oder von jetzt?”
Carl ließ die Frage auf sich einwirken und wandte sich an Bettina. “Sieh zu, dass du sie zur Ruhe bringst. Macht sie um diese Zeit nicht immer ihren Mittagsschlaf?”
Sie zog sich die Kleine auf ihren Schoß, langte nach dem Teddybären und legte ihn ihr in die weit ausgestreckten Arme.
“Geschichte?”, nuschelte Quinn. Zu Hause ihr Einschlafritual: Teddy im Arm, eine Geschichte, schon war sie eingeschlummert.
“Sicher, Mäuschen, eine Geschichte.” Das Dumme war nur: Bettina steckte die Angst dermaßen in den Knochen, dass ihr keine Geschichte einfallen wollte – außer ganz aberwitzigen Storys darüber, was wohl aus ihnen werden sollte und unter welchen Umständen er wohl schießen würde und warum er einen solch starren Blick hatte. Zum Lernstoff in ihren Schauspielkursen gehörte auch das Studium von Gesichtern.
Die Zähne fingen ihr an zu klappern. Seit ihrer Ankunft war das schon ein paarmal passiert. Es lag nicht daran, dass sie fror; es war vielmehr Ausdruck ihrer Angst.
“Hör mit dem Geklapper auf!”, schnarrte er.
“G…Geht nicht …”
“Doch, doch!” Er hob nicht mal die Stimme. Er führte nur die Hand einen Zoll weiter zum Hosenbund, in dem die Waffe steckte. Seit gestern tat er das hin und wieder, als richte er seine Gefangene ab wie einen Hund, damit sie aufs Wort parierte.
Bettina hielt sich die Finger über die Lippen, um ihre Kiefer daran zu hindern, sich von allein zu bewegen.
Quinn guckte sie entgeistert an. “Tina, ist vielleicht dir schlecht?”
“Ja, Schätzchen, ein bisschen.”
Die Kleine streckte das Ärmchen aus und betastete Bettinas Stirn. “Fieber hast du aber nicht.”
Bettina fasste ihr Händchen, drückte einen Kuss darauf und schmiegte das kleine Mädchen eng an sich. “Es wird alles gut, Mäuschen. Bald fahren wir nach Hause.”
“Bald?”
Bettina nickte.
“Ich vermisse Mommy.”
“Das weiß ich, Schätzchen.”
Bettina hasste sich. Weil sie so ein Angsthase war. Und dumm dazu. Erstens, weil sie ins Auto gestiegen war, und zweitens, weil sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie hier herauskommen sollte. Es war alles ihre Schuld.
Das Zähneklappern setzte von Neuem ein.
“Schluss damit, hab ich gesagt!”, bellte Carl.
“Sie hat Angst”, krähte die Kleine mutig mit ihrem dünnen Stimmchen und guckte ihn geradewegs an.
“Jetzt reicht’s mir aber!”, schimpfte er, an Bettina gewandt. “Sieh zu, dass du sie endlich zum Schlafen kriegst! Sonst übernehme ich das!”
57. KAPITEL
D as Grab ist keine Sackgasse; es ist ein offener Durchgang. Es schließt sich mit der Dämmerung und öffnet sich mit dem Morgengrauen
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– Victor Hugo –
San Rafael Swell, Utah – Mittwoch, 13:10
Der einzige Zugang zu dem als “Untere Sphinx” bezeichneten Abschnitt des Canyons führte durch einen Felsspalt, und der dahinterliegende Pfad, der sich durch ein üppig wogendes Felsenmeer schlängelte, erwies sich als tückisch. An einigen Stellen wurde er so eng, dass man sich nur seitlich durch die Engpässe hindurchzwängen konnte. Gabriella schaffte es ohne Probleme, doch Josh mit seiner Neigung zu Klaustrophobie musste sich gegen eine ausgewachsene Angstattacke stemmen, die sich in Schweißausbrüchen, Zittern und Schwindelanfällen äußerte. Jeder Schritt wurde zu einer Strapaze, die ihm den Atem raubte.
Als Führer hinunter in die Schlucht fungierte einer von Larry Rollins’ Studenten, der den ganzen Weg über munter erklärte, wo man sich gerade befand und was die unterschiedlichen Gesteinsformationen bedeuteten. Gabriella ging gleich hinter ihm, während Josh die Nachhut bildete. So konnte er beobachten, wie sie den Pfad entlangstapfte, äußerlich unerschrocken und energisch. Rein logisch betrachtet, das wusste er nur zu gut, wurde sie getrieben von dem Bemühen, ihr Kind zu retten, aber das tat ihrer beeindruckenden Haltung keinen Abbruch. Geschmeidig und mit katzenhaft eleganten Bewegungen kletterte sie die Leiter zur nächsten Ebene hinunter, hinein in den Bauch der Erde, hinunter zu den tieferen Lagen des Canyons. Nur einmal sah sie zurück zu Josh und suchte für einen Wimpernschlag seinen Blick. Dann folgte sie
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