Der Memory Code
Josh lag indes nichts daran, rein biologische Energien auf Zelluloid zu bannen. Er glaubte vielmehr, dass er Beweise für die Existenz menschlicher Seelen sah, Seelen von Frauen oder Kindern, die eines tragischen oder gewaltsamen Todes gestorben waren und ihren Lebensweg daher nicht hatten vollenden können. Genau das wollte er unbedingt auf Film festhalten.
“Da habt ihr mir ja ein schönes Rätsel mitgebracht”, bemerkte Rollins. Gabriella drehte sich zu ihm um, woraufhin Josh die Kamera sinken ließ. “Aber ich glaube, ich habe da einen Ansatz gefunden”, fuhr der Archäologe fort. “Diese Markierungen hier stehen für Zahlen aus der Harappa-Sprache. Und das hier sind Indus-Schriftzeichen. Alice hatte recht.”
Gabriellas Gesichtsmuskeln spannten sich an.
“Was ist mit den Indus-Schriftzeichen?”, wollte Josh wissen.
Wenngleich den Tränen nahe, hob sie zu einer Erklärung an, als stehe sie am Hörsaalpult und halte eine Vorlesung. “Die Indus-Kultur war eine der frühesten städtischen Zivilisationen Südostasiens. Sie erstreckte sich über Teile des heutigen Afghanistans sowie weite Gebiete des heutigen Indiens und ganz Pakistans. Es gibt einen reichen Schatz an Schriftbeispielen aus der Blütezeit der Indus-Kultur, die wir auf eine Zeit von etwa 2600 bis 1900 vor Christus datieren. In den letzten siebzig Jahren hat es allerdings keine bedeutenden Entwicklungen mehr bei der Entschlüsselung der Sprache gegeben.”
“Stimmt – bis voriges Jahr”, fügte Rollins hinzu und beugte sich abermals über die Fotos. “Aber ich habe daran gearbeitet und gemeinsam mit dem Kollegen Parva in Indien doch einen Durchbruch in verschiedener Richtung erzielt.”
Josh kam es mit einem Male in Rollins’ Höhle so totenstill vor wie in Sabinas Grab. Der Gedanke ließ ihn erschauern, als hätte ihn ein kalter Hauch gestreift.
Rollins hob den Blick. “Ich bin sicher, dass eines der Symbole auf jedem dieser Edelsteine eine Zahl darstellt. In Harappa wurden Zahlen durch senkrechte Striche angedeutet. Seht – hier … und hier …” Er tippte mit dem Finger auf eines der Bilder, worauf erst Gabriella und dann Josh die Stellen genauer in Augenschein nahmen.
“Kannst du schon sagen, welche Ziffern das sind?”, fragte Gabriella.
“Parva und ich, wir haben bisher noch keine durch senkrechte Striche dargestellte Acht gefunden. Wir glauben aber, die Zahlenfolge basiert auf einem Achter-System, und die Symbole für die Ziffern eins bis sieben sind uns bekannt. Für höhere gibt es Zusatzzeichen. Die sehen allerdings ganz anders aus als die Markierungen hier auf den Bildern. Auf den ersten Blick würde ich Folgendes vermuten: Die Steine tragen die Nummern 4, 1, 5, 7 und 3. Die letzte da kann ich nicht entziffern; die ist zu schwach.”
“Hätte ich doch bloß größere Nahaufnahmen mitgebracht!”
“Das hätte auch nichts gebracht. Ich kann das hier nicht übersetzen. Parva und ich haben entdeckt, dass Indus logophonetisch ist.” Er wandte sich an Josh, um ihm die Fachsprache zu erklären. “Das heißt, dass diese Schrift unterschiedliche Zeichen benutzt – solche mit der Bedeutung von Worten und außerdem phonetische Zeichen für bestimmte Laute. Bis jetzt haben wir über vierhundert Symbole identifiziert. Die habe ich nicht alle im Kopf. Ich brauche dafür meinen Computer.”
“Aber du glaubst, du findest heraus, was sie bedeuten?”, fragte Gabriella mit banger Stimme.
Rollins schraubte seine Feldflasche auf und nahm einen Schluck. “Ja. In ein, zwei Wochen bin ich wieder zu Hause, da kann ich …”
“Ich habe nur bis Freitag Zeit.”
“Gabriella, was hat das zu bedeuten?”, fragte der Professor irritiert. “Hat es mit dem Mord an Rudolfo zu tun? Mit eurem Fund in Rom? Stammen diese Steine etwa aus dem Vestalinnengrab?”
Hilfe suchend blickte sie zu Josh, als könnte er ihr die Entscheidung abnehmen, was sie ihrem Kollegen verraten sollte und was nicht. Die Qual in ihren Augen empfand er als unerträglich.
“Larry”, begann er, “wenn wir Ihnen das erklären, bringen wir Sie nur unnötig in Gefahr.” Noch nie war es ihm so schwergefallen, jemanden von etwas zu überzeugen.
“Dann brechen wir sofort auf. Und sobald ich zu Hause bin, mache ich mich an die Arbeit.”
“Wir könnten dich nach San José begleiten und in einem Hotel übernachten”, schlug Gabriella vor.
“Ihr könnt mir sowieso nicht helfen. Ich muss ungefähr zwei Monate vor dem Rechner sitzen. Ich weiß, ich weiß, so
Weitere Kostenlose Bücher