Der Memory Code
Bauch der Erde, wo es so finster wurde, dass nur die Grubenlampen an ihren Helmen für etwas Helligkeit sorgten. Obwohl inzwischen gut eine Stunde unterwegs, hielt Gabriella ein beständiges Marschtempo aufrecht, dem Josh nur mit Mühe zu folgen vermochte.
Knapp zwei Stunden nach ihrem Einstieg in das Schluchtenlabyrinth lieferte der Führer die beiden ihm Anvertrauten bei seinem Professor ab. Dieser kauerte gerade auf Knien in einer vier mal vier Meter großen Grotte und begutachtete mit einem Vergrößerungsglas eine kleine Wandzeichnung, eine aus einer Serie von über einhundert.
Nachdem Gabriella ihn begrüßt und ihm Josh vorgestellt hatte, nahm sie sich trotz all ihrer Sorgen die Zeit, sich nach Rollins’ Funden zu erkundigen. Während er die Zeichnungen erklärte, folgte sie seinen Ausführungen äußerlich aufmerksam und ohne nervöses Gezappel, obwohl Josh wusste, wie aufgewühlt sie innerlich war. Sie lauschte, hörte aber nicht zu und zählte vermutlich die Sekunden, bis Rollins endlich fertig war mit der Erläuterung seiner augenblicklichen Arbeit und sie ihn um die Hilfe bitten konnte, deretwegen sie eine solch weite Reise auf sich genommen hatte.
Schließlich ließ der Professor sich die Fotos zeigen. Gabriella öffnete ihren Rucksack, holte die Aufnahmen heraus und reichte sie Rollins. Er hielt die Bilder in den Strahl seiner Taschenlampe und musterte sie eingehend. Quälend langsam kroch die Zeit dahin, während er geschlagene fünf Minuten die Hochglanzfotos inspizierte. Josh hatte inzwischen längst seine Kamera gezückt, um die Umgebung zu fotografieren. Sich um die eigene Achse drehend, blickte er durch den Sucher und nahm so viel wie möglich von dem Ausgrabungsgebiet auf. Gerade schwenkte er noch ein Stück nach rechts zu den Wandmalereien, da geriet Gabriella in seinen Fokus.
Seit damals in Rom, als er im Auto neben ihr saß, hatte er sie nicht mehr im Rahmen seiner Kamera betrachtet. Es war kein bewusster Verzicht gewesen, so nahm er zumindest an, sondern eher aus dem Wunsch geboren, nicht noch einmal daran erinnert zu werden, dass von ihr keine Aura ausging. Jetzt aber hatte er sie genau im Sucher.
Er blickte angestrengt hin. Doch was er zu sehen hoffte, war wieder nicht da.
Josh lehnte sich rücklings gegen die Wand des Canyons. Wieso gab er es nicht endlich auf, dieses heimliche Sehnen, Gabriella könne womöglich jene Frau aus der Vergangenheit sein? Warum suchte er immer noch nach einem Anzeichen dafür, dass sie es vielleicht doch war? Er mochte noch so angestrengt hinspähen – um ihren Kopf oder ihre Schultern war nicht der Hauch von Glanz zu sehen. Das, was so viele der von Malachai und Beryl untersuchten Kinder umgab, was vor einigen Wochen von Rachel ausgegangen war und vor zwanzig Jahren auch wie ein Heiligenschein von seinem sterbenden Vater, es war nicht da.
Im Falle seines Vaters, so Beryls Vermutung, war das Licht ein Abglanz seiner noch gegenwärtigen Seele, die jedoch schon im Begriff war, ihre Wanderung anzutreten. Bei den Kindern wiederum handele es sich nach ihrer Vermutung um den Widerschein eines fremden Geistes, den Rest eines früheren Lebens, der sich durch die Barrikaden des Vergessens kämpfte, um sich in der Hülle eines neuen menschlichen Wesens Gehör oder Platz zu verschaffen. So sollte vergangenes Unrecht dieses Mal wiedergutgemacht werden, auf dass die Seele im nächsten Leben Frieden fände.
Er nahm Gabriellas Gesicht schärfer ins Visier. Nein, keine Spur von jener Schimäre, die er in den vergangenen zwölf Monaten zum Beweis einer Wiedergeburt mit seiner Kamera zu reproduzieren versucht hatte.
In der Bibliothek der Stiftung war er auf Literatur über unterschiedliche Versuche gestoßen, den Schein einer Aura fotografisch festzuhalten – Bemühungen, die sich bis 1898 zurückverfolgen ließen, als die Elektrofotografie erfunden wurde. Insbesondere interessierten ihn erste Beispiele von Pionieren wie dem russischen Ingenieur Jakow Markewitsch Todkow und anderen. Bei etlichen ihrer Bilder handelte es sich offensichtlich um fingierte Ergebnisse von Dunkelkammer-Experimenten. 1937 entdeckte der ukrainische Erfinder Semjon Davidowitsch Kirlian durch Zufall die sogenannte Kirlianfotografie, bei der das abzubildende Objekt unter Erzeugung eines elektrischen Wechselfeldes mit hoher Frequenz, hoher Spannung und niedrigem Widerstand auf eine Fotoplatte gebannt wurde. Dabei entstanden diffus strahlende Leuchterscheinungen aus vielfarbigen Strahlenkränzen.
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