Der Memory Code
brauche ich nicht. Ich möchte nur fünf Minuten mit dem Bild allein sein. Länger braucht man doch sicher nicht, um den Rahmen zu zerlegen, oder?”
63. KAPITEL
J osh and Rachel kehrten in einem Café ein, um ihr weiteres Vorgehen zu planen. Es war Donnerstagnachmittag 14:00 Uhr, und in knapp vierundzwanzig Stunden brauchte Gabriella eine ganze Reihe von Antworten für einen Entführer, der ihr Kind gefangen hielt.
Nachdem sie die nächsten Schritte besprochen hatten, brachte Rachel den Stein ins Rollen. Sie rief Harrison auf dem Handy an. Josh trat derweil hinaus auf die Straße, um sich telefonisch mit Gabriella in Verbindung zu setzen.
Sie meldete sich gleich beim ersten Klingelzeichen mit einem gestressten “Hallo?” und wirkte, als sie Joshs Stimme hörte, erleichtert und enttäuscht zugleich. In aller Kürze setzte er sie ins Bild und erklärte ihr, was vorgefallen war und was er vorhatte.
“Das kannst du nicht machen, Josh! Ich halte es nicht aus, jetzt auch noch für dich verantwortlich zu sein!”
So gern er ihr auch geglaubt hätte – er wusste, dass sie das nur zum Teil so meinte. Vermutlich musste sie das so sagen, doch niemand war ihr wichtiger als ihre Tochter. Falls der etwas zustoßen sollte, würde ihr in Zukunft sowieso alles egal sein.
“Sobald ich hier alles erledigt habe, komme ich nach New Haven”, versprach er. “Und, Gabriella …”
“Ja?”
“Verzeih mir, dass ich dich so lange allein lasse.”
“Schon gut. Rollins und ich, wir waren fast den ganzen Tag online und haben an der Übersetzung gearbeitet. Sei vorsichtig, Josh …” Bei seinem Namen brach ihre Stimme.
Schmerzhaft verzog er das Gesicht, und selbst nachdem er sein Telefon zugeklappt hatte, sah er sie weiterhin vor sich: Das Blitzen ihrer hellbraunen, fast goldfarbenen Augen, ihr widerspenstiges, honigblondes Haar, das sie sich immer, wenn sie angestrengt überlegte, grübelnd aus der Stirn strich.
Als er sich wieder zu Rachel setzte, telefonierte sie noch immer, sodass er unwillkürlich ihr verkrampft wirkendes Gespräch mithörte.
“Das verstehe ich nicht. Entweder hat er für das Gemälde ein Angebot vorgelegt oder nicht.” Pause. “Na gut, dann zeigst du es halt meinem Kunden … Schlimmstenfalls hast du dadurch eine zweite Offerte, die du als Druckmittel verwenden könntest.” Pause. “Gut, wir sind in knapp einer Stunde da.” Sie lächelte zwar, doch sie wirkte gequält und desillusioniert.
Der Portier im Gebäude Ecke Park Avenue und 79. Straße bat Josh um Angabe seines Namens, damit er ihn ankündigen konnte.
“Barton Lipper.”
Sie hatten es sorgfältig geplant. Barton Lipper aus Maryland war einer von Rachels Kunden, ein öffentlichkeitsscheuer Milliardär, der bei ihr alle vier oder fünf Monate Schmuckstücke in Auftrag gab. Im Internet stand zwar einiges über sein Vermögen zu lesen, aber ein Foto war nicht dabei.
Obwohl die Sonne bereits unterging, trug Josh eine Sonnenbrille, die seine Augen verbarg. Er war heilfroh über die dunklen Gläser. Man kann einem Menschen ansehen, dass er lügt – zumal dann, wenn der Beobachter selbst ein ausgemachter Lügner ist. Ob Harrison auch einer war, ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Dass er Gemälde von oft zweifelhafter Herkunft verkaufte, stempelte ihn ja nicht per se zum Kriminellen. Auch renommierte Auktionshäuser wie Sotheby’s oder Christie’s hatten im Laufe der Jahre Kunstwerke aus dubiosen Quellen versteigert. In diesem Fall handelte es sich um ein Werk aus der Caravaggio-Schule, das noch nie gestohlen gemeldet worden war. Es entstammte vielmehr dem Nachlass von Titus Blackwell und war zuvor von Generation zu Generation weitervererbt worden, bis es vor sechs Wochen erstmals auf dem Kunstmarkt aufgetaucht war.
Die entscheidende Frage lautete: Hatte man je den Rahmen auseinandergenommen?
Der weiß behandschuhte Aufzugsführer blickte stur geradeaus, während Josh verfolgte, wie die Lämpchen mit den Stockwerknummern auf der Anzeigetafel aufleuchteten. Die Fahrt dauerte ihm viel zu lange.
Endlich glitten die bronzefarbenen Türen auseinander. “Penthouse A, Sir. Gleich rechts.”
Begrüßt wurde Josh von einer jungen Dame namens Terry, der er sich als Barton Lipper vorstellte. Auf dem Weg in den Salon teilte sie ihm mit, Miss Palmer sei noch nicht im Hause; dafür werde sich Mr. Shoals umgehend um ihn kümmern.
Der Salon hatte doppelte Deckenhöhe, jedoch keine Fenster. Ölgemälde aus dem 18. und 19. Jahrhundert zierten
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