Der Memory Code
kaum wundern, dass Rachel nervös wurde, wenn ihr Geliebter einen ihrer Kunden mit vorgehaltener Waffe bedrohte.
Shoals hatte derweil kein einziges Mal den Blick von Joshs Gesicht gewendet. Dennoch blieb seine Miene immer noch unergründlich, sodass Josh nicht recht schlau aus ihm wurde. “Mr. Shoals, ich kann Ihnen gern zeigen, was Sie da beim Hereinkommen gesehen haben wollen. Dazu müsste ich allerdings noch einmal mit der Hand in die Tasche greifen.”
“Nur zu!”, meinte er nickend. “Aber schön langsam!”
Josh fasste in die rechte Jackentasche, stieß auf sein Döschen mit Atempastillen und nahm es heraus. Er ging ein großes Risiko ein, doch als häufiger Zuschauer von Malachais Zauberkunststückchen hatte er inzwischen gelernt, dass die Leute meist nicht genau wissen, was sie gesehen haben, weil sie nicht an der richtigen Stelle hinsehen.
“Das war alles. Ich bleibe natürlich gern noch hier, während Sie den restlichen Raum unter die Lupe nehmen, aber ganz ehrlich: Ich habe Ihnen nichts weggenommen.”
Das entsprach der Wahrheit, und Josh war überzeugt, dass auch seine Stimme entsprechend klang, Vermutlich drückte es seine Miene ebenfalls aus. Die Steine waren ja nie Shoals Eigentum gewesen; ja, der Kunsthändler hatte, wie von Josh vermutet, überhaupt keine Ahnung von ihnen.
Shoals nahm das Döschen entgegen, hielt es ans Ohr und schüttelte es. Nachdem er das leise Klappern gehört hatte, gab er es Josh zurück und ließ die Waffe sinken.
So schnell es angesichts ihres gespielten Hinkens ging, hastete Rachel zu Josh hin und entschuldigte sich in aller Form. In ihrem Blick aber stand Dankbarkeit, und da begriff Josh, dass sie von nun an zurechtkommen würde. Sie hatte verstanden, wie ihre Vergangenheit sie vor der Gegenwart warnte und wie sie mit dieser Warnung umzugehen hatte.
Josh winkte großmütig ab, als sei das Ganze eine Lappalie. Sie griff nach Handtasche und Jacke.
“Wo willst du hin?”, fragte Shoals.
Sie sah ihm unerschrocken in die Augen und schüttelte den Kopf. “Du hast ihn mit der Waffe bedroht. Du hättest ihn erschießen können! Ich habe hier nichts mehr verloren. Das alles war ein Fehler.” Sie wandte sich zur Tür, wo Josh bereits auf sie wartete.
“Was für ein Spiel ist das, Rachel? Hat dein Onkel etwas damit zu tun? Was habt ihr mit dem Bacchus vor?”
“Mein Onkel? Was hat denn der damit zu tun?”
“Wusstest du etwa nicht, dass er der Käufer ist, den ich erwähnt habe? Ach, komm schon, beleidige mich nicht! Ich will nur wissen, was hier gespielt wird.”
“Das wusste ich nicht, das musst du mir glauben … Ich hatte keine Ahnung. Mein Onkel? Er hat
dir
ein Angebot gemacht? Für den Bacchus?”
“Er will ihn auf Teufel komm raus haben. Nur stecken unsere Verhandlungen derzeit in einer Sackgasse. Wegen … Nein, darauf falle ich nicht rein. Das musst du doch wissen! Ich soll hier wohl für dumm verkauft werden.”
“Harrison, ob du mir glaubst oder nicht, ist mir egal, aber mein Onkel hat keine Ahnung, dass ich heute hier gewesen bin.”
“Rachel?”, bemerkte Josh in fragendem Ton. “Wir müssen gehen!” Er hielt ihr die Tür auf, und nachdem sie an ihm vorbeigegangen war, wandte er sich noch einmal an Shoals. “Der Rahmen ist kein Original. Sie sollten sich etwas einfallen lassen.”
“Der Rahmen?” Shoals guckte ihn fassungslos an. “Der ist doch unwichtig!”
“Für mich nicht. Ein echter Rahmen könnte ein ziemliches Kleinod sein.” Mit diesen Worten marschierte Josh zur Tür hinaus.
66. KAPITEL
U nten angekommen, stiegen sie rasch in den Wagen, den Rachel in weiser Voraussicht herbestellt hatte. Es war ja nicht auszuschließen gewesen, dass Harrison versuchen würde, ihnen zu folgen oder sie zu belästigen.
“Wohin, Miss?”, fragte der Fahrer. “Nach Hause?”
Sie sah Josh an. “Wo möchten Sie abgesetzt werden?”
In seiner rechten Sakkotasche rappelte das Döschen Atempastillen; in der linken schmiegten sich die Juwelen verlockend an seinen Oberschenkel. Shoals hatte zwar bemerkt, dass er etwas eingesteckt hatte, aber nicht, in welche Tasche. Josh hatte geblufft, und die Täuschung hatte funktioniert. Das ist der Trick: An der entscheidenden Stelle sieht man nur selten richtig hin. Er musste seinen Mentor unbedingt wissen lassen, welch guter Lehrer er gewesen war.
Es galt nun, sich einen Wagen zu mieten und hinauf nach New Haven zu fahren, doch zunächst musste er seine Fotoausrüstung holen. Ehe er die Bilder per
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