Der Memory Code
ihn fest. Schon spürte er, wie ihm die Beklemmung aufs Neue die Brust zusammenschnürte. Er atmete ein paarmal tief durch.
Entspann dich! Bis hierher bist du schon gekommen. Es wird gelingen.
Aber so viel steht auf dem Spiel!
Er nahm das abgegriffene Buch zur Hand, in dem er in der Nacht zuvor gelesen hatte, weil die Vorfreude auf das, was der kommende Tag bringen sollte, ihn keine Ruhe hatte finden lassen. “Theosophie” von Rudolf Steiner, dem österreichischen Philosophen und Esoteriker. Neue Werke zu diesem ihm so am Herzen liegenden Thema erschienen alle naselang, und er kaufte und las sie alle. Doch waren es mehr die Denker aus vergangenen Zeiten, die ihn ansprachen und zu denen er häufig zurückkehrte: Schriftsteller wie Lord Alfred Tennyson, Percy Bysshe Shelley, Walt Whitman, Henry Wadsworth Longfellow und Ralph Waldo Emerson, Romanciers wie George Sand, Victor Hugo, Honoré de Balzac und zahllose andere, die ihn bei der Erweiterung und Überarbeitung seiner ständig im Fluss begriffenen Theorien ermunterten, unterstützten und bestätigten. Sie waren sein Maßstab, diese großen Geister, die er durch ihre Werke allein zu ergründen vermochte. So viele brillante Männer und Frauen, die das geglaubt hatten, was er glaubte.
Er schlug das Buch an der Stelle auf, an der er das Lesezeichen eingelegt hatte, einen weichen Streifen aus feinstem Ziegenleder, darauf seine Initialen in Gold. Gerade begann das Kapitel II mit dem Titel “Die Seele in der Seelenwelt nach dem Tode” aus dem dritten Teil des Werkes, “Die Drei Welten”. Einige Passagen waren bereits unterstrichen. Er las sie nun nochmals durch.
“
Es folgt auf den Tod für den Menschengeist eine Zeit, in der die Seele ihre Neigung zum physischen Dasein abstreift, um dann wieder den bloßen Gesetzen der geistig-seelischen Welt zu folgen und den Geist freizumachen. Es ist naturgemäß, dass diese Zeit umso länger dauern wird, je mehr die Seele an das Physische gebunden war …”
Mit der Rechten betastete er wieder die Messingknöpfe des Sessels. Das Metall fühlte sich kühl an. Es gab nicht viel, wonach er ein solch unstillbares Verlangen verspürte wie nach diesen Steinen. Ach, welche Erkenntnisse er durch den Besitz des Schatzes erwerben würde! Wie viele Rätsel man lösen, was man alles an Geschichte erfahren konnte! Und nicht nur das!
Er las den nächsten Abschnitt, in dem Steiner beschreibt, wie brennend die Seele leidet an der Entbehrung der Lust, und wie dieser Zustand sich fortsetzt, bis die Seele gelernt hat, “
nicht mehr nach solchem zu begehren, was nur durch den Körper befriedigt werden kann.”
Wie mochte das sein, jene Stufe des Nicht-Begehrens zu erreichen? Eine Stufe reinen Denkens, eines Erlebens der Einheit des Universums? Das ultimative Ziel des Wiedergeborenwerdens?
Er blickte von seiner Lektüre auf und schaute zum Telefon, als könne er damit den Anruf gleichsam herbeizwingen. Es handelte sich um einen simplen Raub. Der Professor war nicht mehr der Jüngste. Außerdem war er allein dort. Es kam nur darauf an, ihn zu überwältigen und die Schatulle an sich zu nehmen. Ein Kinderspiel im Grunde. Und wenn ein Kind das schaffen konnte, dann ein Profi erst recht. Nicht umsonst heuerte er ausschließlich die Besten an, die teuersten Spezialisten, die der Markt hergab. Für einen Schatz, für diesen Schatz, konnte kein Preis zu hoch sein.
Es bestand also kein Anlass zur Sorge. Der Anruf musste erfolgen, sobald die Sache erledigt war. Auf einmal fühlten sich die runden Messingknöpfe wieder warm an. Erleichtert ließ er die Finger um die nächsten beiden kreisen und wandte sich abermals seinem Buch zu.
“
Denn durch diesen höchsten Grad von Sympathie mit der ganzen übrigen Seelenwelt wird die Seele gleichsam in dieser zerfließen, eins mit ihr werden …”
Gäbe es Beweise für ein Vorleben, dazu auch Sicherheit über das Leben in der Zukunft – was, so fragte er sich, würdest du als Erstes mit deinem Wissen anfangen? Jedenfalls nicht strafen oder foltern; es lag ihm nichts daran, Schmerzen oder Leid zu verursachen. Nach verschollenen Schätzen suchen? Wahrheiten entdecken, die man im Laufe der Geschichte zu Lügen verwandelt hatte? Ja, all das, zu gegebener Zeit. Zuerst aber …
Obwohl er es erwartet hatte, ließ das Klingeln ihn jäh zusammenfahren, sodass er im Sessel regelrecht nach vorn zuckte. Aber er nahm den Hörer nicht gleich ab, so gern er es auch getan hätte. Erst legte er das Lesezeichen wieder
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