Der Memory Code
die Sonnenstrahlen das Honigblond ihres Haars zur Geltung brachten. Doch das, wonach er eigentlich suchte, war nicht zu erkennen.
Nach dem Bombenattentat hatte er des Öfteren erlebt, dass er beim Fotografieren bestimmter Menschen eine Art Aura um deren Köpfe wahrnahm. Merkwürdigerweise war dann aber auf dem fertigen Foto dieses seltsame Licht nicht mehr zu sehen. Zuerst hatte er auf einen Defekt an seiner Kamera getippt und deshalb sowohl das Gehäuse als auch die Linsen ausgetauscht. Als die Erscheinung danach aber erneut auftauchte, hatte er seinen Ärzten davon berichtet. Ähnlich wie bei seinen Erinnerungssprüngen hätte der Schein auf eine neurologische Erkrankung hinweisen können. Allerdings fanden die Neurologen nichts.
Als Josh dann seine Arbeit an der Stiftung aufnahm, sah er auch weiterhin dieses Licht um die Köpfe der Kinder, mit denen er zu tun hatte. Mit bloßem Auge nicht zu erkennen, ließ es sich ausschließlich durch den Sucher der Kamera feststellen: milchig-durchsichtige Wellen, die strahlenförmig von den Oberkörpern der Kinder ausgingen. Etwa so, wie es ein Karikaturist zeigen würde, wenn er in einer Zeichnung schnelle Bewegung sichtbar machen will. Sollte es etwa tatsächlich so etwas wie die Darstellung von Geschwindigkeit sein? Sollte es andeuten, wie die Zeit mit Lichtgeschwindigkeit verfliegt?
Zuvor hatte er dies ein einziges Mal gesehen.
Als Josh zwanzig war, erkrankte sein Vater Ben an Krebs. Möglich, dass Ben spürte, wie sein Sohn darauf reagierte, aber anfangs redete er nicht viel über seine Krankheit. Das war seine Art. Er sagte es Josh auf seine Weise, geradeheraus und ohne Umschweife, und überließ es seinem Sohn, das Gehörte zu verarbeiten.
Einige Tage darauf waren sie gemeinsam in der Dunkelkammer, beide beleuchtet von einem einsam schimmernden Rotlicht. “Ich möchte dich um einen Gefallen bitten”, sagte Ben, während sie gerade den am Nachmittag gemachten Film entwickelten. Dann bat er seinen Sohn, eine fotografische Chronik des Krankheitsverlaufes zu beginnen.
Damals hatte Josh nicht lange über die Bitte nachgedacht. Sie war ihm ganz selbstverständlich erschienen. Der Vater, ein Fotograf, bittet den Sohn, ebenfalls Fotograf, den letzten Lebensabschnitt festzuhalten. Erst Jahre später ging Josh auf, welch großes Geschenk sein Vater ihm da gemacht hatte: Auf diese Weise hatten sie so viel Zeit wie möglich zusammen verbracht, und Ben hatte ihm auch noch die allerletzten Feinheiten der Fotografierkunst weitergeben können. Sie waren vereint gewesen, obwohl sie sich schon mitten im endgültigen Lebewohl befanden.
In jenen letzten Lebenswochen des Vaters hatte Josh alles Mögliche festgehalten. Das langsame Hinsiechen. Das allmähliche Verlöschen des Lichts in Bens Augen, bis darin nichts mehr blieb außer Schmerzen und Abgestumpftheit. Durch den Sucher spähend forschte Josh nach dem einst so kraftstrotzenden Mann, den er sein ganzes Leben lang gekannt und geliebt hatte. Was er jedoch fand, war nur noch ein Zerrbild aus Haut und Knochen und siechem Gewebe.
Als das Endstadium begann, zog Josh nach Hause zurück und schlief auf einem Feldbett im Krankenzimmer des Vaters. Eines Nachts war er gerade eingeschlafen, als die Krankenschwester ihn weckte und ihm sagte, die Atemgeräusche des Kranken ließen vermuten, dass es dem Ende zuging.
Josh bat sie, ihn mit dem Todkranken allein zu lassen.
Im Dunkeln saß er am Sterbebett und hielt die Hand des Vaters, dessen rasselnde Atemzüge ihm durch Mark und Bein gingen. Unvermutet schlug Ben da die Augen auf. Regungslos auf dem Bett liegend, sah er zu seinem Sohn hoch und hauchte: “Noch eine …”
“Morphiumspritze?”, fragte Josh leise. Obwohl Ben Infusionen erhielt, hatte er offenbar vergessen, dass er keine schmerzstillenden Injektionen mehr bekam.
“Nein …” Er verzog das Gesicht zu einem kraftlosen Lächeln. “Aufnahme. Von meinem Sterben …”
Normalerweise träumt ein Sohn davon, dass ihm der Vater auf dem Sterbebett das Geheimnis des Lebens enthüllt. An Josh erging indes die Bitte, seine Kamera zu nehmen und sich an die Arbeit zu machen. Das Fotografieren war beider Lebensinhalt gewesen, und so stand Josh über den sterbenden Vater gebeugt und fotografierte ihn, ohne zu wissen, ob etwas aus den Bildern werden würde, denn seine Sicht war verschwommen vor lauter Tränen.
Und genau bei diesen Aufnahmen bemerkte er den durchscheinenden Kranz, der sich ringförmig um Kopf und Schultern seines
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