Der Memory Code
25 vor Christus vom Staatsmann Marcus Vipsanius Agrippa, Schwiegersohn des Kaisers Augustus, errichtet wurde. Anfang des 7. Jahrhunderts wurde das Pantheon zur Kirche und der Santa Maria ad Martyres geweiht.”
Hatte er – oder der Mann, den er in seinen inneren Filmen sah – genau diesen Tempel vor tausendsechshundert Jahren verteidigt? Erinnerte er sich für ihn? Für die Toten?
Von seinem Standpunkt aus konnte er Gabriella vor dem Seitenaltar sehen, wo sie mit einem langen Fidibus eine Votivkerze anzündete. Der Docht knisterte erst stotternd, brannte dann an und entwickelte eine gleichmäßige Flamme, die das Glasgehäuse rot aufschimmern ließ.
Mit gebeugtem Haupt und vor der Brust gefalteten Händen kniete die Archäologin nieder. Es juckte Josh in den Fingern, eine Aufnahme von ihr zu machen, doch er spürte, dass es aufdringlich gewirkt hätte, diese Frau, die er ja kaum kannte, beim Gebet zu fotografieren. Ja, selbst das Zuschauen in einem solch intimen Moment erschien ihm unangebracht, aber er war wie gebannt von der Szene, von der getragenen Stimmung, welche unmittelbar über dem Chaos schwebte. Von der Schönheit des nach vorn geneigten, tief im Gebet versunkenen Frauenkörpers. Vom Spiel des Sonnenlichts, das wie ein Heiligenschein ihren Kopf umkränzte – Ebenbild des Strahlenkranzes der Jungfrau auf dem Gemälde, das hinter ihr in einer Nische hing.
“Sie haben wohl nichts übrig für Kirchen?”, fragte Gabriella ihn, als sie ein paar Minuten später in ebendiesem Alkoven zu ihm stieß.
Josh konnte ihr schlecht erzählen, dass er gerade eben noch, an einem Sonntagnachmittag des einundzwanzigsten Jahrhunderts, im Portal des römischen Pantheon gestanden und dabei gesehen hatte, was vor rund zwei Jahrtausenden hier geschehen war. Ebenso wenig konnte er ihr sagen, dass ihn der Schrecken ebendieser Vergangenheit am Eintreten gehindert hatte.
Der Einzige, dem er in den letzten sechs Monaten seine Geschichte anvertraut hatte – abgesehen von Dr. Beryl Talmage und Malachai Samuels von der Phoenix Foundation –, war Professor Rudolfo. Kein bisschen voreingenommen oder skeptisch, sondern im Gegenteil fasziniert hatte der Archäologe Joshs Aussagen akzeptiert. Würde Gabriella sich ebenso vorurteilslos verhalten? Oder würde sie ihn so beurteilen wie seine geschiedene Frau, wie manche Ärzte und Therapeuten? Wie Josh auch selber nach wie vor, wenn er in den Spiegel sah? Als Spinner?
Malachai hatte gelacht, als Josh ihm erzählt hatte, wie er sich fühlte.
“Für mich bist du ein Juwel”, hatte er gesagt. “Ein Geschenk. Eine Chance für uns, unser Verständnis von Reinkarnation auf die nächste Stufe zu heben.”
Als er nun mit Gabriella die Kirche verließ, fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wo Malachai eigentlich war.
“Er war gestern fast den ganzen Tag in der amerikanischen Botschaft”, erklärte sie ihm auf seine Frage hin. “Er wollte sie dazu bewegen, sich für Sie einzusetzen. Ich telefonierte gestern Abend mit ihm und er berichtete mir, dass seine Bemühungen noch keinen Erfolg hatten. Irgendein Gipfeltreffen findet gerade statt, und deshalb war keine der zuständigen Stellen zu erreichen. Da fragte er mich, ob ich nicht einspringen könne. Er meinte wohl, ich hätte bei der Polizei einen Stein im Brett, weil ich fließend italienisch spreche.”
“Und weil Sie so verdammt attraktiv sind.”
Sein Kompliment brachte sie ziemlich aus dem Konzept. Ihn selber auch.
“Entschuldigung, das war jetzt wohl ziemlich sexistisch.”
Sie wehrte kopfschüttelnd ab. “Nein, das war nett!”
Die zwischen ihnen herrschende Spannung ließ einen Moment lang nach. Sie waren einfach nur zwei Menschen, die im Sonnenschein über eine Straße der italienischen Hauptstadt flanierten, wobei der Herr seiner Begleiterin ein Kompliment machte, das die Dame in demselben Geist entgegennahm, in dem es gemeint war: galant.
Sie stiegen in Gabriellas Wagen. Kaum hatte sie den Motor angelassen, da klingelte ihr Handy. Während sie dem Anrufer in flüssigem Italienisch antwortete, drehte Josh sich um und blickte zurück zu der Kirche, in die gerade eine Touristengruppe einrückte. Die Kamera gezückt, musterte er das Gebäude aus verschiedenen Blickwinkeln und machte mehrere Aufnahmen. Gabriella hatte ihm den Rücken zugekehrt und schaute, während sie sprach, zum Seitenfenster hinaus. Er drehte sich etwas im Sitz, sodass er ihr Profil sehen und beobachten konnte, wie ihre Lippen sich bewegten und wie
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