Der Memory Code
Vaters zog.
Zuerst dachte er, es liege an seinen Tränen oder daran, dass seine Hand so zitterte, oder es sei eine Lichtspiegelung aus dem Badezimmer, oder es sei etwas mit der Linse oder gar mit der Kamera selbst. Jedenfalls ließ er es dabei bewenden.
Während der nachfolgenden Tage und Wochen der Trauer vergaß er das geheimnisvolle Licht, und als er einige Zeit darauf die Aufnahmen entwickelte, war kein Schein darauf zu sehen. Josh beschäftigte sich gedanklich nicht weiter mit der Sache.
Bis er zwanzig Jahre später seinen Dienst in der Phoenix Foundation antrat. Da sah er ihn wieder, den perlmuttfarbenen Lichtring, der einem Flügelpaar gleich um Köpfe und Schultern seiner Objekte herum erschien.
Eines Tages erwähnte er seine Beobachtung beim Mittagessen mit Beryl und Malachai.
“Was, das auch noch?”, murmelte Malachai wehmütig.
“Wie darf ich das verstehen?”, fragte Josh.
“So etwas sehen nicht viele. Ich beispielsweise kann das nicht.”
Beryl hingegen mochte sich die melancholisch-sehnsuchtsvolle Art ihres Neffen nicht zu eigen machen. Missbilligend den Kopf schüttelnd, als wolle sie einen unartigen kleinen Jungen zurechtweisen, ging sie die Sache ganz emotionslos an. “Wir halten das für eine Art Markierung, mit der man einige Menschen als alte Seelen identifizieren kann.”
“Haben Sie es schon mal gesehen?”, wollte Josh wissen.
“Ja.”
“Durch eine Kamera?”
“Nein. Sehen Sie es denn nur durch den Sucher?”
Josh bejahte und fragte nach dem Grund, doch Beryl konnte keinen nennen. Er fragte sie, wieso sie bisher noch nie in ihren Veröffentlichungen darauf zu sprechen gekommen sei.
“Das A und O wissenschaftlicher Forschung ist empirische Reproduzierbarkeit. Ich könnte eine Petrischale nehmen, einen Goldfisch darin züchten und den als Ergebnis meiner Forschung präsentieren. Aber meine wissenschaftliche Reputation hinge davon ab, dass ein anderer Forscher, der mit meinen Methoden dasselbe versucht, zum selben Ergebnis käme. Anderenfalls könnte ich als Wissenschaftlerin einpacken.”
“Dann finde ich eben eine Beweismethode. Wenn die dann einer benutzt und dieselben Objekte fotografiert wie ich, müsste er den Schein ebenfalls sehen.”
“Ich glaube nicht, dass das funktioniert”, meinte Beryl.
“Kommt auf einen Versuch an. Ich brauche bloß einen Ansatz von Beweis. Zum Glück dreht es sich hier um eine Sache, von der ich etwas verstehe – Kamera, Lichtverhältnisse, Belichtungszeit …”
Noch lange nach dem bewussten Mittagessen fragte sich Josh, ob jenes Licht, das er vor Jahren zum ersten Mal wahrgenommen hatte, wohl die Seele seines Vaters war, die sich unbeschädigt vom siechen, todgeweihten Leib gelöst und die Reise in einen neues, gesunderes Leben, in eine neue Existenz angetreten hatte.
Joshs Eltern waren beide nicht religiös gewesen, und so war es kein Wunder, dass auch er mit Religion nichts am Hut hatte. Ben hatte verfügt, er wolle nicht beerdigt, sondern eingeäschert werden, und man solle seine Asche wie Unrat fortwerfen. Es war sein Wunsch, und Josh hielt sich daran. Er wusste ja, sein Vater war nicht in dieser Asche, sondern er lebte weiter in den Erinnerungen des Sohnes.
Und auf den Fotos.
“Man tut, was man kann, und macht das Beste aus seinem Leben”, so hatte er einmal in seinem letzten Lebensjahr zu Josh gesagt. “Der Himmel, der ist nur ein Vertrösten aufs Jenseits. Der soll bloß den Menschen die Angst vor dem Tod nehmen.”
Josh hatte also verfolgt, wie Spannkraft und Energie seines Vaters zusehends verfielen, und jeden Tag minutiös aufgenommen, was von ihm blieb. Doch wohin Bens Geist sich begeben hatte – diese Frage stellte Josh sich erst, seit er für die Stiftung tätig war. Zuvor hatte er nie darüber nachgedacht, ob die Seele sich womöglich ohne Weiteres auf Wanderschaft begeben konnte. Nie hatte er sich gefragt, ob die Seele in einer Art Schwebezustand verharrte, bis sie Eingang in einen neuen Körper fand. Und erst recht wäre er nie und nimmer auf den Gedanken gekommen, er selbst werde einmal derjenige sein, der die Seele mit der Kamera einfangen und zu beweisen versuchen würde, dass es sie wirklich gab.
Seit jenem Essen mit Beryl aber stellte er sich diese Fragen.
“Ich muss zurück zur Klinik”, bemerkte Gabriella, nachdem sie aufgelegt hatte. “Dem Professor geht es schlechter. Könnte sein, dass er …” Schluckend und nach Fassung ringend, ließ sie den Satz unvollendet.
“Sie sagten doch, er
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