Der Memory Code
annehmen, er habe sie im Stich gelassen. Sie musste zu dem Schluss gelangen, dass er sie nicht genug liebte.
Es gibt keine “sie”! Deine Fantasie spielt dir vor lauter Einsamkeit einen Streich!
Josh fühlte sich völlig zerschlagen. Sämtliche Knochen taten ihm weh. Der Körper war der von Josh, das Denken jenes von Julius. Seine Haut war so trocken, dass sie sich wie Schmirgelpapier anfühlte. Die Augen brannten, die Haare waren fettig, die Beine so steif, als wäre er Marathon gelaufen. Der Brandgeruch hing immer noch in seiner Nase.
Beängstigend, wenn man merkt, dass man peu à peu den Verstand verliert. Josh war es leid, immer und ewig bis ins Kleinste zu analysieren, was mit ihm vorging. Damit musste Schluss sein. Er wollte zurück in jenes Leben vor dem Bombenanschlag, in jene Zeit, in der seine Erinnerungen mit dem vierten Lebensjahr begannen, als er seine erste Kamera geschenkt bekam. Damals war sein Vater mit ihm in den verschneiten Central Park gegangen, wo der Kleine seinen ersten Film verknipsen durfte.
Da half nur eins, um den Bann zu brechen: raus aus den Federn und unter die Dusche. Doch nicht einmal der prasselnde kalte Wasserstrahl vermochte das Gefühl zu verscheuchen, dass ein Teil von ihm in jener anderen Welt verweilte. Bei Sabina.
Verdammt. Verdammt. Verdamm! Das war doch verrückt! Es gab keine Frau namens Sabina. Keine Vergangenheit. Es gab nur sein durch ein unsichtbares Trauma vermurkstes Hirn, und was den seelischen Schock ausgelöst hatte, das stand bisher nicht so genau fest und ließ noch keine präzise Diagnose zu.
Sicher, Josh hatte Hunderte von Malachai und Beryl verfasste Berichte gelesen, in denen von Kindern die Rede war, die sich an alles in ihrem Vorleben haargenau erinnern konnten. In manchen Fällen hatten die Schilderungen es der Stiftung ermöglicht, historische Beweise für das Erlebte zu erbringen. Natürlich behaupteten Zyniker, solche Beweise ließen logischerweise vermuten, dass es hier nicht um Erinnerung ging, sondern um Irreführung.
Manchmal schon, gewiss. Aber immer und immer wieder? Bei Tausenden von Kindern? Zu welchem Zweck denn?
Die betroffenen Kinder quälten sich mit ihren vorigen Leben. Man sah es ihnen an den Augen an, hörte es auch, wenn ihnen die Stimme versagte. Weder ihnen noch ihren Eltern brachte das Ganze finanzielle Vorteile. Keiner der Betroffenen war je an die Öffentlichkeit gegangen. Die Phoenix Foundation hatte dreitausend Kindern dabei geholfen, ihre bestürzenden, aufwühlenden Visionen zu verarbeiten, und nie hatte auch nur eines versucht, seine Erlebnisse zu Geld zu machen.
Warum also fiel es Josh so schwer zu akzeptieren, dass mit ihm genau das passierte, was auch diese Kinder erlebt hatten? Warum sollte es nicht möglich sein, dass sich damals vor langer Zeit in Rom etwas Schreckliches zugetragen hatte und dass er sich nun aufgrund von metaphysischen Zufällen an etwas erinnerte, dessen er sich eigentlich nicht entsinnen sollte?
Was, wenn diese Frau, deren mumifizierte Überreste von Professor Rudolfo und Gabriella entdeckt worden waren, tatsächlich Sabina hieß? Wenn es wirklich einen altrömischen Pontifex namens Julius gegeben hatte, durch dessen Schuld jene Vestalin in ihrem engen, kleinen Verlies erstickt war? Wirkten sich nicht genau solche tragischen Ereignisse dermaßen negativ auf das Karma aus, dass eine Vergeltung unweigerlich irgendwann folgen musste, und sei es über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg?
Aber angenommen, er glaubte das alles – was hätte er tun sollen?
Er drehte den Heißwasserhahn auf.
Wie ahndet man einen Tod, der sich im Jahre 391 nach Christus zugetragen hat?
Finde den Körper, in dem Sabinas Seele Heimat gefunden hat. Mach es wieder gut.
War das denn nicht der Gedanke, der ihm schon die ganze Zeit keine Ruhe ließ? Seit er nach dem Sprengstoffanschlag im Krankenhaus zu sich gekommen war?
Irgendwo wartet eine Frau auf dich, und du wirst erst wieder du selbst sein, wenn du sie gefunden hast.
Er war so besessen von dieser mysteriösen Römerin, so durcheinander von dieser Vorstellung, dass es seine ohnehin schon angeknackste Ehe vollends ruiniert hatte.
Irgendwo wartet eine Frau auf dich, in der Sabinas Seele wohnt. Sie wartet auf deine Hilfe. Dieses Mal musst du es schaffen.
Für Verlangen gibt es keine Erklärung. Sie lässt sich nicht mit Logik erfassen, jene machtvolle Gier, die alles Denken ausblenden und einen Menschen nahezu willenlos machen kann. Tropfnass unter der Dusche
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