Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Memory Code

Der Memory Code

Titel: Der Memory Code Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
Vom Netzwerk:
den Augen an. Was damals passiert ist, habe ich ja nicht miterlebt. Ich kenne es nur vom Hörensagen. In mancher Hinsicht sind Sie schlimmer dran als ich, glaube ich.”
    Andrea Carlucci war der Sicherheitsbeamte gewesen, der damals den Checkpoint direkt am Petersplatz besetzt hatte – bei dem Bombenanschlag, der Josh um ein Haar das Leben gekostet hätte. Der Sprengsatz hatte ihn mit voller Wucht getroffen. Beide waren im Krankenhaus Zimmernachbarn gewesen. In der Woche, in der Andrea mit dem Tode rang, wich ihm Tina nicht von der Seite, und bevor sie abends nach Hause zu ihren Kindern fuhr, hatte sie jedes Mal noch bei Josh hereingeschaut. Benommen und beduselt von seinen Medikamenten, sah er dann jene engelsgleiche Erscheinung, die da an seinem Bett stand, das Gesicht umrahmt von langem schwarzen Haar, den Kopf geneigt, die Augen geschlossen, auf den Lippen ein stummes Gebet für seine Genesung.
    Einen Tag vor Andreas Beerdigung wurde Josh aus dem Krankenhaus entlassen, und trotz seiner Schmerzen und Schwindelanfälle hatte er dem Toten die letzte Ehre erwiesen. Damals hatte er sich zum ersten, doch nicht zum letzten Mal gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn statt seiner Andrea, ein Familienvater mit Frau und zwei Kindern, den Anschlag überlebt hätte.
    Auch jetzt, während er zusah, wie sie den Espresso einschenkte, ging ihm dieser eine Gedanke wieder durch den Kopf.
    “Es war sehr lieb von Ihnen, dass Sie vorbeigekommen sind”, sagte sie und schob ihm die kleine Tasse hin. “Haben Sie dienstlich in Rom zu tun?”
    Er rührte ein Löffelchen Zucker in den Kaffee und nippte. “Ja. Zum ersten Mal seit damals.”
    “Und wie war es bis jetzt? Hatten Sie wieder so ein …” – sie zögerte, als fiele ihr gerade die Vokabel nicht ein – “… Backflash?”
    “Flashback?” Er lächelte, ging aber auf ihre Frage nicht ein. “Brauchen Sie etwas, Sie und die Kinder?”
    “Nein, nein”, wehrte sie kopfschüttelnd ab. “Ich bekomme ja Andreas Pension. Außerdem gehe ich doch wieder halbtags arbeiten. Bei den Mädchen unterstützen mich meine Eltern. Nonno und Nonna haben die beiden gern um sich.”
    “Die Mädels sehen entzückend aus.” Josh trank seinen Espresso aus. “Dabei fällt mir ein: Soll ich vor der Abreise noch ein paar Bilder von ihnen machen? Von euch allen dreien?”
    Er machte die Aufnahmen draußen im Garten, im Schein der Nachmittagssonne. Die Kinder waren anfangs ein wenig schüchtern, aber nachdem er ihnen die Plüschtiere überreicht hatte, tauten sie auf und hatten ihren Spaß. Ja, sie lachten sogar beim Fotografieren und posierten ganz ungezwungen vor der Linse.
    “Tja, so sind sie”, sagte er zu Tina, während sie ihn zum wartenden Taxi brachte. “Eben noch am Spielen, im nächsten Augenblick zu Tode betrübt, dann wieder himmelhoch jauchzend. Kinder erholen sich sehr schnell.”
    “Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich nicht so vor dem Trauern fürchten wie wir.” Tina kämpfte sichtlich mit den Tränen.
    “Oh, entschuldigen Sie. War vielleicht doch keine so gute Idee, herzukommen …”
    “Doch, eine sehr gute. Eine liebe sogar. Ich habe mich sehr über Ihren Besuch gefreut. Machen Sie sich nichts draus, wenn ich weine. Ich habe immer gewusst, dass Andrea einen lebensgefährlichen Beruf ausübte. Ich hatte nur Angst, ich sterbe auch, wenn er umkommt. Jetzt, wo ich weiß, dass ich ohne ihn leben kann, macht mir so schnell nichts mehr Angst.”
    Josh wusste nicht, was er sagen sollte. Tina hingegen schon. Sie fasste ihn bei beiden Händen, senkte den Kopf und stimmte mit geschlossenen Augen die Worte an, die Josh wie Musik in den Ohren geklungen hatten, als er sie damals im Hospital zum ersten Mal hörte, vollgepumpt mit Schmerzmitteln, mehr schlafend denn wachend. Und wie Musik erschienen sie ihm auch jetzt.

38. KAPITEL
    M it zwei Stunden Verspätung hob Flug 121 von Rom nach New York nachmittags um halb fünf ab. Während des Starts saß der 70-jährige Passagier auf Platz 29B über seine zerfledderte Bibel gebeugt und las das Buch Genesis Seite für Seite durch. Sein Sitznachbar sah einige Male neugierig zu ihm hinüber und versuchte dann, ihn zu ignorieren, riskierte aber doch hin und wieder einen Blick. Als der Flieger gut vierzig Minuten in der Luft war und gerade ein Abendimbiss gereicht wurde, erfolgte der Aufruf an einen Fluggast namens Meyerowitz, sich zu melden. Der Passagier mit der Bibel zuckte erschrocken zusammen, denn es war sein Name, der da vor

Weitere Kostenlose Bücher