Der Memory Code
können, wo er den alten Herrn abgesetzt hatte.
Nein, er musste wohl oder übel ein Taxi nehmen – irgendwohin, wo es eine öffentliche Toilette gab, damit er Hut, Bart und Schläfenlocken loswurde. Danach konnte er sich von einem anderen Fahrer risikolos nach Hause kutschieren lassen.
Erst als er wohlbehalten im Taxi saß, dachte er noch einmal darüber nach, wieso der erste Zollbeamte so misstrauisch geworden war. Im Geiste ging er die gesamte Befragung abermals durch. Alles Routine. Nein, an ihm oder an dem, was er gesagt hatte, konnte es nicht liegen. Ob er sich irgendwie falsch verhalten hatte?
Unbehaglich wand er sich auf dem Rücksitz, glättete den schwarzen Mantel und spürte dabei die grobe Wolle an den Händen. Ein Glück, dass er bald aus diesen unbequemen Klamotten heraus war!
Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Gedenke, dass du den Sabbat heiligst!
Kein orthodoxer Jude würde an einem Samstag reisen!
Wie hatte er bloß so dumm sein können?
39. KAPITEL
N ew Haven, Connecticut – Samstag, 11:19 Uhr
Gabriella Chase hockte auf dem Fußboden ihres Büros, umgeben von einem wahren Kuddelmuddel aus Büchern, losen Aktenblättern und nassem Laub, das von Wind und Regen durchs offene Fenster hereingeweht wurde.
Als sie ihren Platz in der Maschine zurück nach New York einnahm, da hatte sie geglaubt, sie werde sich daheim sicherer fühlen, werde die Angst in Rom zurücklassen. Und tatsächlich: Vorige Nacht, als sie wieder unter demselben Dach schlief wie ihre Tochter und ihr Vater, da hatte sie das Gefühl gehabt, als liege der schlimmste Teil der Krise hinter ihr.
Jetzt allerdings, angesichts des Chaos und der unübersehbaren Hinweise auf einen Einbruch, begriff sie, dass sie sich geirrt hatte. Solange der Einbrecher nicht fand, wonach er suchte, so lange gab es für sie keine Sicherheit.
Wenn er nicht gar schon fündig geworden war.
Heulend frischte der Wind auf. Das Fenster! Sie musste das Fenster schließen. Nur wusste sie nicht recht, ob sie sich dazu schon aufraffen konnte.
“Professor Chase?”
Sie drehte sich um. In der Tür standen zwei Männer in der Uniform des Campus-Sicherheitsdienstes. Den älteren kannte sie zwar, aber der Name fiel ihr nicht ein. Wie das? Dabei war der doch schon hier an der Uni angestellt, als sie ihre Professur antrat!
Denk nach!
Streng dich an!
Ihre früher vor Neugier strahlenden Augen blickten ausdruckslos; die sonst so wilde, reizvolle Mähne war zerzaust und stumpf.
Der ihr bekannte Wachmann kam auf sie zu. “Ist Ihnen nicht gut?”
Sie konzentrierte sich auf ihn und seine Frage. “Doch, doch, Alan, alles okay.” Richtig, Alan hieß er. Und der andere Lou.
Mit einem lauten Krachen knallte das Fenster dermaßen wuchtig gegen den Rahmen, dass Alan beinahe vor Schreck zusammenzuckte.
Gabriella blieb äußerlich ungerührt. “Das passiert manchmal. Ich wollte es immer schon vom Hausmeister richten lassen.” Nach wie vor kauerte sie auf dem Fußboden.
Alan legte ihr den Arm um die Schultern und half ihr auf. Sie war ganz leicht, wehrte sich auch nicht und begann sichtbar zu zittern, als der Wachmann sie zu ihrem Schreibtischstuhl geleitete. Nachdem sie Platz genommen hatte, blickte er sich suchend um. An der Bürotür, weit genug vom Fenster sowie dem hereinschlagenden Regen entfernt und daher einigermaßen trocken, hing eine Strickjacke, die er ihr um die Schultern legte.
“Was ist hier eigentlich passiert, Professor Chase?”, wollte Lou wissen. “Können Sie uns das sagen?”
“Keine Ahnung, was hier los war. Bin erst vor fünf Minuten aus der Bibliothek gekommen.” Sie guckte auf ihre Uhr und schüttelte verwirrt den Kopf. “Ach nein, vor knapp einer Viertelstunde. Da sah es hier schon so aus wie jetzt. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich habe noch versucht, die Akten zu retten. Meine sämtlichen Unterlagen, die Arbeit von Jahren. Flog alles durch die Gegend. Das Fenster musste wohl schon eine ganze Weile auf gewesen sein, es hat nämlich reingeregnet. Ich habe die Wasserlache nicht gesehen, bin darauf ausgerutscht und habe mir das Knie am Tisch gestoßen …” Sie wischte sich das feuchte Haar aus dem Gesicht.
“Dann wissen Sie wohl noch nicht, ob was gestohlen wurde, hm?”, fragte Lou.
“Nein, kann ich noch nicht sagen”, erwiderte sie mit einer Geste, die das Durcheinander im Zimmer umfasste. “Bei dem Tohuwabohu hier, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll. Aber mir geht’s wieder bestens,
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