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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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essen und nachher in die Gaîté Montparnasse, Flanagans Lieblingslokal. Je weiter der Abend fortschritt, desto fröhlicher wurde er. Er hatte eine Menge getrunken, aber der Rausch war eher eine Folge seiner Lebhaftigkeit als des Alkohols. Nach Schluss der Vorstellung schlug er vor, ins Bal Bullier zu gehen. Philip, zu müde zum Schlafen, willigte gerne ein. Sie setzten sich an einen Tisch an der Seite, der leicht erhöht über der Tanzfläche stand, so dass sie bequem den Tänzern zusehen konnten, und tranken ein Glas Bier. Plötzlich erblickte Flanagan eine Freundin und sprang mit einem wilden Schrei über die Brüstung zu den Tanzenden hinunter. Philip betrachtete die Leute. Das Bullier war nicht gerade der letzte Schrei. Es war Donnerstag, und das Lokal war gesteckt voll. Man sah Studenten der verschiedensten Fakultäten, aber die meisten der Männer waren kleine Beamte oder Kommis; sie trugen ihre Alltagskleider und hatten die Hüte auf dem Kopf, denn sie hatten sie mit in den Saal gebracht und wussten nicht, wo sie sie sonst beim Tanzen lassen sollten. Von den Frauen sahen verschiedene aus wie Dienstmädchen, einige wie geschminkte Straßendirnen, aber in der Mehrzahl waren es Ladenmädchen, armselig gekleidet, in billigen Imitationen der Moden jenseits des Flusses. Manche der Frauen hatten sich herausgeputzt, um auszusehen wie die Revue-Künstlerinnen oder Tänzerinnen, die sich gerade besonderer Beliebtheit erfreuten; ihre Augen waren schwarz geschminkt und ihre Wangen unverschämt rot. Der Saal war erhellt von großen, tiefhängenden weißen Lampen, die die Schatten auf den Gesichtern scharf hervortreten ließen. Alle Linien wurden hart in diesem Licht, und die Farben waren grell und roh. Es war ein abstoßender Anblick. Philip lehnte sich über die Brüstung, starrte hinunter und hörte schließlich die Musik nicht mehr. Die Paare tanzten wild. Sie tanzten im Saal umher, langsam, nur wenig sprechend, völlig im Tanz versunken. Es war sehr heiß, und ihre Gesichter glänzten vom Schweiß. Philip schien es, als hätten sie die Masken abgeworfen, hinter denen sich ihr Inneres sonst verbarg, ihren Tribut an die Konvention, als würde mit einem Mal ihr wirkliches Wesen sichtbar. In diesem Augenblick der Selbstvergessenheit wirkten sie merkwürdig animalisch; einige erinnerten an Füchse, andere an Wölfe, und wieder andere hatten die langen, dämlichen Gesichter von Schafen. Ihre Haut war fahl von dem ungesunden Leben, das sie führten, und der kümmerlichen Nahrung, die sie zu sich nahmen. Ihre Züge waren abgestumpft durch ihre niedrigen Interessen und ihre Augen unstet und verschlagen. Ihre Haltung hatte nichts Edles, und man fühlte, dass das Leben für sie alle eine Aneinanderreihung von kleinlichen Sorgen und trivialen Gedanken war. Die Luft war stickig vom muffigen Geruch der Menschheit. Aber sie tanzten wild, wie unter einem seltsamen inneren Zwang, und auf Philip wirkte es, als wären sie von einer rasenden Gier nach Vergnügen getrieben. Verzweifelt versuchten sie, einer schrecklichen Welt zu entfliehen. Das Verlangen nach Lust, das, wie Cronshaw behauptete, das einzige Motiv menschlichen Handelns war, trieb sie blindlings voran, und dieses Verlangens war so groß, dass diese Lust gar nicht aufkommen konnte. Sie wurden dahingejagt von einem großen Sturm, hilflos, ohne zu wissen, wohin und warum. Das Schicksal schwebte über ihnen, und sie tanzten, als wäre ewige Finsternis unter ihren Füßen. Ihre Schweigsamkeit hatte etwas Beunruhigendes an sich. Es war, als erschreckte sie das Leben und raubte ihnen die Gewalt über die Sprache, so dass der Schrei aus ihren Herzen in ihren Kehlen erstickte. Ihr Blick war wild und finster; ungeachtet der viehischen Gier, die sie entstellte, und der Gewöhnlichkeit ihrer Gesichter und der Grausamkeit, ungeachtet des Stumpfsinns, der am schlimmsten war, machte die Angst in diesen starren Augen die ganze Menge entsetzlich und erschütternd. Philip empfand Ekel, und sein Herz schmerzte zugleich vor Mitleid.
    Er holte seinen Mantel aus der Garderobe und ging hinaus in die bittere Kälte der Nacht.
    50
     
    Philip konnte über das unglückliche Ereignis nicht hinwegkommen. Was ihn am meisten erschütterte, war die Nutzlosigkeit von Fannys Kampf. Niemand hätte angestrengter und ernsthafter arbeiten können als sie; sie glaubte an sich von ganzem Herzen, aber es unterlag keinem Zweifel, dass Selbstvertrauen sehr wenig zu bedeuten hatte; alle seine Freunde besaßen davon

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