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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Verantwortung nicht übernehmen; man müsse den commissaire de police holen. Sie gingen miteinander zu dem bureau und holten dann einen Schlosser. Philip erfuhr, dass Miss Price die Miete für das letzte Vierteljahr nicht mehr bezahlt hatte. Am Neujahrstag hatte sie dem concierge nicht das Geschenk gegeben, das er, einem alten Brauch zufolge, von jedem Hausbewohner bekam und als sein gutes Recht betrachtete. Die vier Männer stiegen miteinander hinauf und klopften abermals an die Tür. Es kam keine Antwort. Der Schlosser machte sich ans Werk, und endlich drangen sie in das Zimmer ein. Philip stieß einen Schrei aus und bedeckte instinktiv die Augen mit den Händen. Die unglückselige Frau hing mit einem Strick um den Hals von der Zimmerdecke herab, an einem Haken, der von einem früheren Mieter angebracht worden war, um die Bettvorhänge zu befestigen. Sie hatte ihr eigenes Bett beiseitegeschoben und sich auf einen Stuhl gestellt, den sie dann weggestoßen hatte. Er lag umgekippt auf dem Fußboden. Man schnitt sie herunter. Der Körper war ganz kalt.
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    Die Geschichte, die sich Philip nun zusammenreimte, war entsetzlich. Eines der Ärgernisse der weiblichen Studenten war es gewesen, dass Fanny Price nie an ihren fröhlichen Mittagessen teilgenommen hatte, und der Grund dafür lag auf der Hand: Fanny Price hatte unter der nacktesten, bittersten Armut gelitten. Er erinnerte sich an das Mittagessen, zu dem er sie zu Beginn seines Pariser Aufenthaltes eingeladen hatte, an die Gier, mit der sie die Speisen verschlungen hatte und die ihn abgestoßen hatte: Nun wusste er, dass sie halb verhungert gewesen war. Der concierge erzählte ihm, woraus ihre Nahrung bestanden hatte. Man brachte ihr jeden Tag eine Flasche Milch, und dazu kaufte sie sich einen Laib Brot; zu Mittag, wenn sie aus der Schule kam, aß sie die eine Hälfte des Brotes und trank die Hälfte der Milch, und am Abend verzehrte sie den Rest. Tag für Tag war es das Gleiche gewesen. Philips Herz krampfte sich zusammen, wenn er bedachte, was sie ausgestanden hatte. Sie hatte niemals zu verstehen gegeben, dass sie ärmer war als die anderen, aber offenbar waren ihre Geldmittel zu Ende gegangen und schließlich konnte sie es sich nicht mehr leisten, ins Atelier zu kommen. Das kleine Zimmer enthielt nur die notdürftigste Einrichtung, und außer dem schäbigen braunen Kostüm, das sie immer getragen hatte, waren keine Kleider da. Philip suchte unter ihren Sachen nach der Adresse irgendeines Freundes, mit dem er sich in Verbindung setzen konnte. Er fand ein Stück Papier, auf dem viele Male sein eigener Name geschrieben stand. Das erschreckte ihn besonders. Es musste also wahr sein, dass sie ihn geliebt hatte. Er dachte an den ausgemergelten Körper in dem braunen Kleid, der von dem Haken in der Decke herunterhing, und er schauderte. Aber wenn er ihr am Herzen gelegen hatte, warum hatte sie sich nicht von ihm helfen lassen? Gerne hätte er alles getan, was in seiner Macht stand. Er machte sich Vorwürfe, weil er es einfach nicht zur Kenntnis hatte nehmen wollen, dass sie ihm ein tieferes Gefühl entgegengebracht hatte. Und jene Worte in ihrem Brief: Ich kann den Gedanken nicht ertragen, von jemand anderem angefasst zu werden, erschienen ihm nun unendlich erschütternd.
    Sie war verhungert.
    Endlich fand Philip einen Brief mit der Unterschrift: Dein Dich liebender Bruder Albert. Er war zwei bis drei Wochen alt, in London geschrieben und verweigerte ein Darlehen von fünf Pfund. Der Schreiber hatte für Frau und Kind zu sorgen und fühlte sich nicht in der Lage, Geld zu verleihen. Er riet Fanny, nach London zu kommen und sich eine Stellung zu suchen. Philip telegrafierte an Albert Price und erhielt sehr bald Antwort:
Tief bestürzt. Sehr schwierig, von Geschäft abzukommen. Ist Anwesenheit unbedingt erforderlich? Price.
    Philip erwiderte mit einem entschiedenen Ja, und am nächsten Morgen fand sich ein Fremder in seinem Atelier ein.
    »Mein Name ist Price«, sagte er, als Philip die Tür öffnete.
    Er war ein gewöhnlich aussehender Mann in Schwarz, mit einem Trauerflor um seine Melone; er hatte etwas von Fannys unbeholfenem Äußeren; er trug einen borstigen Schnurrbart und sprach mit Cockney-Akzent. Philip forderte ihn auf einzutreten. Mr.   Price ließ seine Blicke neugierig im Atelier umherschweifen, während Philip ihn über die Einzelheiten des Unglücks unterrichtete und ihm mitteilte, was er bisher unternommen hatte.
    »Ich brauche sie doch nicht zu

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