Der Menschen Hoerigkeit
sehen, nicht wahr?«, fragte Albert Price. »Meine Nerven sind nicht sehr stark, und schon Kleinigkeiten regen mich furchtbar auf.«
Er fing an zu erzählen. Er war Gummihändler und hatte eine Frau und drei Kinder. Fanny war Erzieherin gewesen, und er konnte nicht begreifen, warum sie nicht bei diesem Beruf geblieben war und stattdessen nach Paris gegangen ist.
»Ich und meine Frau haben ihr immer gesagt, dass Paris keine Stadt für ein junges Mädchen ist und dass man mit Malerei kein Geld verdienen kann.«
Es war klar, dass er kein sehr freundschaftliches Verhältnis zu seiner Schwester gehabt hatte; ihren Selbstmord betrachtete er sozusagen als ein letztes Unrecht, das sie ihm angetan hatte. Der Gedanke, die Armut habe sie dazu gezwungen, war ihm unangenehm: Das warf ein schlechtes Licht auf die Familie. In dem Versuch, einen achtbaren Grund für ihre Tat zu finden, wandte er sich an Philip:
»Ich hoffe, sie hatte keinerlei Schwierigkeiten mit einem Mann. Sie wissen, was ich meine – Paris und all das. Sie könnte es getan haben, um sich eine Schande zu ersparen.«
Philip fühlte, wie er rot wurde, und verwünschte seine Schwäche. Die scharfen, kleinen Augen von Price schienen ihn einer Liaison zu verdächtigen.
»Ich glaube, dass Ihre Schwester völlig tugendhaft gelebt hat«, antwortete er säuerlich. »Sie hat sich umgebracht, weil sie am Verhungern war.«
»Nun, das ist sehr schlimm für die Familie, Mr. Carey. Sie hätte mir nur zu schreiben brauchen. Ich hätte meine Schwester nicht im Stich gelassen.«
Philip hatte die Adresse des Bruders auf dem Brief gefunden, in dem er ihr das Darlehen von fünf Pfund verweigert hatte; aber er zuckte die Schultern: Es hatte keinen Sinn, eine Gegenbeschuldigung vorzubringen. Philip empfand eine heftige Abneigung gegen den kleinen Mann und hatte bloß den einen Wunsch, so schnell wie möglich mit ihm fertigzuwerden. Auch Albert Price wollte das, was zu geschehen hatte, rasch abwickeln, um unverzüglich wieder nach London zurückzukehren. Die beiden begaben sich miteinander in Fannys winziges Zimmer. Albert Price musterte die Bilder und die Möbel.
»Ich verstehe zwar nichts von Kunst«, sagte er, »aber viel werden diese Bilder wohl nicht einbringen.«
»Gar nichts«, entgegnete Philip.
»Und die Einrichtung ist keine zehn Shilling wert.«
Albert Price konnte kein Französisch, und es blieb Philip überlassen, die nötigen Formalitäten zu erledigen. Es schien ein nicht enden wollender Prozess, den armen Leichnam unter die Erde zu bringen: Papiere mussten an einer Stelle beschafft und an einer anderen unterschrieben werden. Man hatte mit Behörden zu verhandeln. Drei Tage war Philip von morgens bis abends beschäftigt. Endlich fuhr er mit Albert Price hinter dem Sarg zum Friedhof Montparnasse.
»Sie soll anständig begraben werden«, sagte Albert Price, »aber es hat keinen Sinn, Geld hinauszuwerfen.«
Die kurze Zeremonie an dem kalten, grauen Morgen war unendlich jämmerlich. Ein halbes Dutzend Leute, die mit Fanny gearbeitet hatten, nahmen an der Beerdigung teil: Mrs. Otter, weil sie massière war und es für ihre Pflicht hielt; Ruth Chalice, weil sie ein gutes Herz hatte, und dann noch Lawson, Clutton und Flanagan. Sie alle hatten Fanny, solange sie lebte, nicht gemocht. Philip ließ seine Blicke über den mit teils armseligen, teils geschmacklos-protzigen Grabmonumenten übersäten Friedhof wandern und schauderte. Es war entsetzlich trostlos. Als sie den Friedhof verließen, fragte Albert Price Philip, ob er mit ihm essen gehen wolle. Philip empfand Ekel vor ihm und war müde; er hatte schlecht geschlafen, weil er ständig von Fanny Price träumte, wie sie in ihrem zerrissenen braunen Kostüm von dem Haken in der Decke des Zimmers herabhing, aber es fiel ihm keine Entschuldigung ein.
»Führen Sie mich irgendwohin, wo wir ein anständiges Essen bekommen. Diese ganze Geschichte tut meinen Nerven nicht gut.«
»Lavenue ist so ziemlich das beste Lokal hier in der Gegend«, antwortete Philip.
Albert Price ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf einem samtbezogenen Stuhl nieder. Er bestellte ein kräftiges Essen und eine Flasche Wein.
»Ich bin froh, dass es vorbei ist«, sagte er.
Er stellte einige listige Fragen, und Philip entdeckte, dass er begierig war, etwas über das Leben des Malers in Paris zu erfahren. Es erschien ihm bedauernswert, trotzdem war er eifrig bemüht, Einzelheiten über die Orgien zu erfahren, die er sich in
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