Der Menschen Hoerigkeit
war unfähig zu hassen oder nachtragend zu sein. Sollte er ihr schreiben? Nein, er würde sie plötzlich überfallen, sich ihr zu Füßen werfen – er wusste, wenn es so weit war, würde er viel zu scheu sein, um so eine dramatische Geste durchzuführen, aber so stellte er es sich gern vor – und ihr sagen, dass sie sich für ewig auf ihn verlassen könne, wenn sie ihn wieder aufnähme. Er sei von der scheußlichen Krankheit, an der er gelitten habe, geheilt. Er kenne ihren Wert, und nun möge sie ihm vertrauen. Seine Phantasie sprang in die Zukunft. Er stellte sich vor, wie sie zusammen sonntags auf dem Fluss rudern würden; er würde mit ihr nach Greenwich fahren; er hatte die wunderbare Fahrt mit Hayward nie vergessen, und die Schönheit des Londoner Hafens blieb ein unvergesslicher Schatz in seiner Erinnerung. An warmen Sommerabenden würden sie miteinander im Park sitzen und sich unterhalten: Er lachte vor sich hin, als er an ihr fröhliches Schwatzen dachte, das wie ein Wildbach über kleine Steine, unterhaltsam, redselig und voller Charakter hüpfte. Die Qual, die er durchgemacht hatte, würde wie ein böser Traum aus seinem Kopf weichen.
Als er dann aber am nächsten Tag um die Teezeit, zu der man Norah mit ziemlicher Sicherheit zu Hause treffen konnte, an ihre Tür klopfte, sank ihm der Mut. War es möglich für sie, ihm zu vergeben? Es wäre unverschämt von ihm, sich ihr aufzudrängen. Die Tür wurde von einem neuen Mädchen geöffnet, und er fragte, ob Mrs. Nesbit zu Hause sei.
»Wollen Sie bitte fragen, ob Mr. Carey sie besuchen dürfte?«, sagte er. »Ich warte hier draußen.«
Das Mädchen ging nach oben und kam sofort wieder heruntergeklappert.
»Wollen Sie bitte hinaufgehen. Zweites Stockwerk nach vorn.«
»Ich weiß«, sagte Philip mit einem kleinen Lächeln.
Er ging mit pochendem Herzen. Er klopfte an die Tür.
»Herein«, sagte die wohlbekannte, heitere Stimme.
Es schien wie ein Herein zu einem neuen Leben voll Frieden und Glück. Als er eintrat, trat Norah vor, um ihn zu begrüßen. Sie schüttelte ihm die Hände, als hätten sie einander erst gestern gesehen. Ein Mann erhob sich.
»Mr. Carey – Mr. Kingsford.«
Philip setzte sich bitter enttäuscht hin, da er sie nicht allein antraf, und besah sich prüfend den Fremden. Er hatte nie seinen Namen von ihr gehört, aber es schien Philip, dass er so im Stuhl saß, als wäre er hier zu Hause. Er war um die vierzig, glatt rasiert, mit langem, blondem Haar, das fein säuberlich wie angeklebt lag, und der rötlichen Haut und den blässlichen, müden Augen, wie sie blonde Männer bekommen, wenn ihre Jugend vorbei ist. Er hatte eine große Nase, einen breiten Mund; die Knochen des Gesichtes traten hervor, und er war von schwerer Gestalt. Es war ein breitschultriger Mann von überdurchschnittlicher Größe.
»Ich habe mich schon gewundert, was aus dir geworden ist«, sagte Norah in ihrer munteren Art. »Neulich habe ich Mr. Lawson getroffen – hat er es dir erzählt? –, und ich habe ihm gesagt, es wäre höchste Zeit, dass du dich wieder einmal sehen lässt.«
Philip sah in ihrer ganzen Haltung nicht die geringste Verlegenheit, und er bewunderte die Leichtigkeit, mit der sie eine Begegnung meisterte, die ihm so unerhört peinlich vorkam. Sie brachte ihm Tee. Sie wollte gerade Zucker dazutun, als er sie zurückhielt.
»Wie dumm von mir«, rief sie, »das habe ich ganz vergessen.«
Das glaubte er nicht. Sie musste sich doch daran erinnern, dass er nie Zucker zum Tee nahm. Er deutete es als ein Zeichen, dass ihre Nonchalance gespielt war.
Die Unterhaltung, die Philip unterbrochen hatte, ging weiter, und bald fühlte er sich etwas im Weg. Kingsford nahm von ihm keine besondere Notiz. Er sprach flüssig und gut, nicht ohne Humor, aber in einer leicht dogmatischen Art: Er war Journalist, wie sich herausstellte, und wusste zu allem, worauf man zu sprechen kam, etwas Amüsantes zu sagen; aber es ärgerte Philip, dass er so aus der Unterhaltung verdrängt war. Er war entschlossen, länger als der andere Besucher zu bleiben. Ob es wohl ein Verehrer von Norah war? Früher hatten sie häufig über die Männer, die mit Norah flirten wollten, geredet und gemeinsam über sie gelacht. Philip versuchte, die Unterhaltung auf Dinge zu bringen, die nur ihm und Norah vertraut waren, jedes Mal aber unterbrach ihn der Journalist und lenkte das Gespräch erfolgreich auf Themen, bei denen Philip schweigen musste. Er wurde ein bisschen
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