Der Menschen Hoerigkeit
dieser Männer aber war wie eine Peitsche auf ihren schmalen weißen Schultern, und sie zitterte unter wollüstigem Schmerz.
Über eines war Philip sich klar geworden: Er würde nicht mehr in die Wohnung, in der er so viel gelitten hatte, zurückkehren. Er schrieb seiner Wirtin und kündigte. Er wollte seine eigenen Sachen um sich haben. Er beschloss, ein unmöbliertes Zimmer zu nehmen, das wäre angenehmer und noch dazu billiger. Letzteres war eine dringend nötige Erwägung, denn er hatte während der letzten anderthalb Jahre fast siebenhundert Pfund ausgegeben. Das musste er jetzt durch allerstrengste Sparsamkeit wieder einholen. Hin und wieder jagte der Gedanke an die Zukunft ihm einen panischen Schrecken ein; er war ein Narr gewesen, so viel Geld für Mildred auszugeben; dabei wusste er jedoch, er würde wieder genauso handeln. Es amüsierte ihn, dass ihn seine Freunde für eigenwillig, besonnen und kühl hielten, weil er ein Gesicht hatte, das seine Gefühle nicht sehr lebhaft widerspiegelte, und weil seine Bewegungen langsam waren. Sie hielten ihn für verständig und priesen seinen gesunden Menschenverstand; er aber wusste, dass sein gleichmäßiger Gesichtsausdruck nichts als eine Maske war, die er unbewusst angenommen hatte und die nun wie eine Schutzfarbe bei Schmetterlingen ihre Wirkung tat; er selbst war erstaunt über seine Willensschwäche. Es schien ihm, als könnte die geringste Erregung ihn hin- und hertreiben, als wäre er ein Blatt im Wind, und wenn ihn Leidenschaft ergriff, war er machtlos. Er hatte keine Selbstbeherrschung. Nur scheinbar besaß er sie, weil ihm viele Dinge gleichgültig waren, die andere Menschen heftig bewegten.
Er betrachtete die Philosophie, die er für sich entwickelt hatte, mit einiger Ironie, denn bei dem, was er durchgemacht hatte, war sie nicht gerade von großem Nutzen gewesen. Und er fragte sich, ob Denken den Menschen überhaupt in den kritischen Dingen des Lebens helfen könne; ihm schien es eher, als würde er von einer Macht getrieben, die ihm feindlich und doch Teil seiner selbst war, so wie der große Höllenwind Paolo und Francesca ewig vorantrieb. Er überlegte, was er machen sollte, doch wenn die Zeit zum Handeln kam, war er machtlos der Gewalt der Triebe, der Gefühle und er wusste nicht, was noch allem, ausgeliefert. Er handelte, als wäre er eine Maschine, die von zwei Kräften angetrieben wird: seiner Umwelt und seiner Persönlichkeit; sein Verstand war wie ein Zuschauer, der die Ereignisse beobachtete, aber nicht die Macht hatte einzuschreiten: wie jene Götter des Epikur, die die Taten der Menschen von den himmlischen Höhen aus sehen, aber keine Macht haben, auch nur den kleinsten Teil dessen, was geschieht, zu verändern.
79
Philip kehrte ein paar Tage vor Semesterbeginn nach London zurück, um Zimmer zu suchen. Er jagte in den Straßen umher, die von der Westminster Bridge Road abzweigten, aber ihr Schmutz widerte ihn an. Schließlich fand er eine Straße in Kennington, die still war und ein wenig altmodisch wirkte. Es erinnerte ein bisschen an das London, das Thackeray gekannt hatte. In Kennington Road, wo der große Landauer der Newcomes durchgefahren sein musste, als die Familie nach West-London fuhr, platzten gerade die Knospen der Platanen auf. Die Häuser der Straße, die Philip ausersehen hatte, waren zweistöckig, und fast in allen Fenstern hingen Schilder, auf denen stand, dass hier Zimmer zu vermieten seien. Er klopfte bei einem Haus, das unmöblierte Zimmer anbot; eine strengaussehende, schweigsame Frau zeigte ihm vier kleine Zimmer, in einem war ein Herd und ein Abwaschbecken. Die Miete betrug neun Shilling pro Woche. Philip brauchte eigentlich nicht so viele Zimmer, aber die Miete war niedrig, und er wollte sich sofort an die Arbeit machen. Er fragte die Wirtin, ob sie für ihn den Putzdienst übernehmen und sein Frühstück bereiten könne; aber sie entgegnete, dass sie schon genug Arbeit habe; eigentlich war er froh darüber, denn sie ließ durchblicken, dass sie außer dem Empfang der Miete nichts weiter mit ihm zu tun haben wolle. Sie sagte ihm, wenn er beim Krämer um die Ecke, der auch gleichzeitig eine Postfiliale habe, nachfragte, würde er sicher eine Frau finden, die für ihn die Arbeit machte.
Philip besaß ein paar Einrichtungsgegenstände, die sich allmählich angesammelt hatten: einen Lehnstuhl, den er in Paris gekauft hatte, einen Tisch, ein paar Zeichnungen und den kleinen persischen Teppich, den Cronshaw ihm
Weitere Kostenlose Bücher