Der Menschen Hoerigkeit
eilig seine Sachen gepackt hatte, den erstmöglichen Zug. Er wollte weg von diesen schäbigen Räumen, in denen er so viel Leid durchgemacht hatte. Er wollte wieder einmal frische, saubere Luft atmen. Er ekelte sich vor sich selbst. Er hatte das Gefühl, er war ein bisschen verrückt.
Seit er erwachsen war, hatte man ihm im Pfarrhaus immer das beste der leeren Zimmer gegeben. Es war ein Eckzimmer, und vor dem einen Fenster stand ein alter Baum, der die Aussicht versperrte, aber von dem andern aus sah man über den Pfarrgarten und das angrenzende Feld, das zum Pfarrhaus gehörte, hinaus auf weite Wiesen. Philip erinnerte sich an die Tapete noch aus seinen ersten Jahren dort. An den Wänden hingen altmodische Aquarelle aus der frühen viktorianischen Epoche, die ein Jugendfreund des Pfarrers gemalt hatte. Sie hatten einen verblichenen Charme. Der Ankleidetisch war von einem steifen Musselinvorhang umgeben. Dann stand da eine alte hohe Kommode, in die man die Kleider hineinlegte. Philip gab einen Seufzer des Wohlbehagens von sich; noch nie war ihm bewusst geworden, dass alle diese Sachen ihm etwas bedeuteten. Im Pfarrhaus ging das Leben seinen gewohnten Gang. Kein Möbelstück war von der Stelle gerückt; der Pfarrer aß genau das Gleiche, sagte das Gleiche, machte jeden Tag den gleichen Spaziergang; er war etwas behäbiger, etwas schweigsamer und etwas engherziger geworden. Er hatte sich an das Leben ohne seine Frau gewöhnt und vermisste sie wenig. Noch immer lag er sich mit Josiah Graves in den Haaren. Philip besuchte den Kirchenvorsteher. Er war ein bisschen dünner, ein bisschen weißhaariger, ein bisschen strenger; er war noch immer selbstherrlich und lehnte Kerzen auf dem Altar ab. Die Läden waren immer noch altmodisch, und Philip stand vor dem, in dem alles, was der Seemann brauchen kann, feilgeboten wurde, Schifferschuhe und Persenning und Tauwerk, und erinnerte sich daran, wie er früher in seiner Kindheit von der Kraft des Meeres und vom abenteuerlichen Zauber des Unbekannten ergriffen wurde.
Er konnte nichts dagegen tun, dass sein Herz beim Pochen des Briefträgers jedes Mal höher schlug, für den Fall, dass ein Brief von Mildred, von seiner Wirtin nachgeschickt, dabei wäre; aber er wusste, es würde keiner kommen. Jetzt, da er ruhiger darüber nachdenken konnte, sah er ein, dass er das Unmögliche versucht hatte, als er Mildred dazu zwingen wollte, ihn zu lieben. Er wusste nicht, was es eigentlich war, was zwischen Mann und Frau, zwischen Frau und Mann hin- und herschwang und was den einen zum Sklaven des andern machte: Man nannte es bequemerweise den Geschlechtstrieb; wenn es aber nichts weiter war, so verstand er nicht, warum man gerade von diesem oder jenem und nicht von einem beliebigen andern Menschen so wild angezogen wurde. Es war unwiderstehlich: Es hatte keinen Sinn, dass der Kopf dagegen rebellierte; Freundschaft, Dankbarkeit, Interessen, sie alle verloren ihre Macht daneben. Da er Mildred sexuell nicht anzog, hatte nichts, was er tat, Wirkung auf sie. Der Gedanke empörte ihn, die menschliche Natur bekam dadurch etwas Tierisches, und plötzlich fühlte er, dass das Menschenherz voll dunkler Winkel ist. Weil Mildred ihm gegenüber gleichgültig war, hatte er sie für frigide gehalten; ihre anämische Erscheinung und die dünnen Lippen, der Körper mit den schmalen Hüften und der flachen Brust, die Mattigkeit in ihrem ganzen Verhalten bestärkten ihn in seiner Vermutung; und doch war sie plötzlicher Leidenschaften fähig, und sie war gewillt, alles aufs Spiel zu setzen, um diese zu befriedigen. Er hatte ihr Abenteuer mit Emil Miller nie verstanden: Es schien nicht zu ihr zu passen, und sie war nie fähig gewesen, es zu erklären; aber nun, da er sie mit Griffith gesehen hatte, wusste er, dass hier beinahe das Gleiche geschehen war: Sie war von einem unbändigen Verlangen mitgerissen worden. Er versuchte herauszufinden, was sie an diesen beiden Männern so unglaublich fesselte. Beide hatten sie einen vulgären Witz, der ihren einfachen Sinn für Humor ansprach, und ein gewisses rohes Wesen; aber was sie vielleicht gefangen nahm, war die nicht zu übersehende Sinnlichkeit, die ihr deutlichstes Merkmal war. Sie gab sich elegant und fein und schauderte angesichts der Wirklichkeit, sie betrachtete Körperfunktionen als unschicklich, sie hatte alle Arten mildernder Ausdrücke für gewöhnliche Gegenstände bereit, sie hielt ein feineres Wort immer für passender als ein einfaches: Die Brutalität
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