Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
Vom Netzwerk:
und betrachteten den Fuß. Zwei oder drei untersuchten ihn eingehend, nachdem Jacobs ihn losgelassen hatte.
    »Lassen Sie sich Zeit«, sagte Philip mit ironischem Lächeln. Er hätte sie alle miteinander umbringen können. Er stellte sich vor, wie herrlich es wäre, ihnen einen Meißel ins Genick zu treiben (er wusste selbst nicht, wieso ihm gerade dieses Werkzeug in den Sinn kam). Wie brutal Menschen sein konnten! Er wünschte, er könnte an eine Hölle glauben, um die Genugtuung zu haben, dass sie schreckliche Qualen erleiden müssten. Mr.   Jacobs wandte seine Aufmerksamkeit nun der Frage der Behandlung zu. Er sprach teils zum Vater des Jungen, teils zu den Studenten. Philip zog den Strumpf wieder an und schnürte seinen Schuh zu. Schließlich war der Chirurg fertig. Aber es schien ihm noch etwas einzufallen, und er wandte sich an Philip.
    »Wissen Sie, ich glaube fast, es lohnt sich, dass Sie sich einer Operation unterziehen. Ich könnte Ihnen natürlich nicht einen ganz normalen Fuß verschaffen, aber immerhin, etwas ließe sich schon tun. Lassen Sie es sich einmal durch den Kopf gehen, und wenn Sie einmal eine kleine Erholungspause brauchen, dann kommen Sie einfach zu uns in die Klinik.«
    Philip hatte sich schon oft gefragt, ob etwas getan werden könnte; aber seine Abneigung, das Thema auch nur zu streifen, hatte ihn abgehalten, einen der Chirurgen in der Klinik zu befragen. Seinen Studien zufolge hätte man vielleicht etwas tun können, solange er noch klein war; aber damals war man in der Behandlung von Talipes noch nicht so weit gewesen wie jetzt. Jedenfalls würde sich eine Operation schon lohnen, wenn er danach etwas normaleres Schuhwerk tragen könnte und nicht so zu hinken brauchte. Es fiel ihm ein, wie leidenschaftlich er um das Wunder gebetet hatte, das, wie sein Onkel ihm bestätigt hatte, dem Allmächtigen möglich war. Er lächelte wehmütig.
    ›Ich war damals eine einfältige Seele‹, dachte er.
    Gegen Ende Februar wurde klar, dass es Cronshaw immer schlechter ging. Er konnte nicht mehr aufstehen. Er lag im Bett, bestand darauf, dass das Fenster immer verschlossen blieb, und weigerte sich, einen Arzt kommen zu lassen. Er aß sehr wenig, verlangte jedoch nach Whisky und Zigaretten. Philip wusste, dass er eigentlich keines von beiden haben durfte, aber Cronshaw war zu keiner Diskussion bereit.
    »Ich glaube wohl, dass es mich umbringt. Das ist mir jedoch gleichgültig. Sie haben mich gewarnt, Sie haben alles getan, was nötig ist: Ich beachte Ihre Warnung nicht. Geben Sie mir etwas zu trinken und lassen Sie mich in Frieden.«
    Leonard Upjohn kam zwei- oder dreimal wöchentlich hereingeweht, ja, im wahrsten Sinne des Wortes hereingeweht, denn er hatte etwas von einem toten, abgestorbenen Blatt an sich. Er war ein kraftloser Bursche, fünfunddreißig Jahre alt, mit langem, ausgeblichenem Haar und weißlichem Gesicht; er sah aus wie jemand, der zu wenig ins Freie kommt. Er trug einen Hut wie die Geistlichen der Dissidenten. Philip mochte ihn seiner gönnerhaften Art wegen nicht leiden und langweilte sich bei seiner geläufig dahinfließenden Unterhaltung. Leonard Upjohn hörte sich gern reden. Er war nicht sehr feinfühlig, was das Interesse seiner Zuhörer betraf – was die erste Voraussetzung eines guten Redners sein muss –, und er spürte nie, wenn er den Leuten Dinge sagte, die sie bereits wussten. Mit wohlabgewogenen Worten teilte er Philip mit, was er von Rodin, Albert Samain und César Franck zu halten habe. Philips Reinemachfrau kam nur eine Stunde jeden Morgen, und da Philip den ganzen Tag über im Hospital sein musste, war Cronshaw viel allein. Upjohn sagte zu Philip, er finde, dass er jemand zur Pflege bräuchte, aber er erbot sich nicht, das zu ermöglichen.
    »Es ist schrecklich, diesen großen Dichter so allein zu wissen. Ach, er könnte sterben, ohne dass ihm eine Menschenseele beisteht.«
    »Das wird er wahrscheinlich auch«, sagte Philip.
    »Wie kann man nur so gefühllos sein!«
    »Warum kommen Sie nicht her und arbeiten hier? Dann wären Sie in seiner Nähe, wenn er irgendetwas braucht«, sagte Philip trocken.
    »Ich? Mein Verehrtester, ich kann nur in meiner vertrauten Umgebung arbeiten. Außerdem muss ich so viel ausgehen.«
    Upjohn fühlte sich auch ein wenig gekränkt, weil Philip Cronshaw zu sich genommen hatte.
    »Hätten Sie ihn doch in Soho gelassen«, sagte er, mit einer Geste seiner langen dünnen Hände. »Die schmutzige Dachkammer hatte etwas Romantisches. Ich

Weitere Kostenlose Bücher