Der Menschen Hoerigkeit
Aus den Augen der Menschen, die er malte, spricht die ungekannte Sehnsucht der Seele, ihre Sinne sind wunderbar fein, nicht für Laute, Gerüche und Farben, sondern für die zartesten Empfindungen der Seele. Der Edle schreitet mit dem Herzen eines Mönches dahin, und seine Augen sehen Dinge, die auch der Heilige in seiner Zelle schaute, und es überrascht ihn nicht. Seine Lippen haben das Lächeln nie gekannt.
Philip nahm wieder, noch immer schweigend, das Bild von Toledo zur Hand, das ihm das packendste unter allen schien. Er konnte seine Augen nicht losreißen. Ihm war zumute, als stünde er auf der Schwelle zu einer neuen Entdeckung. Innerlich bebte er, als nähme er an einem Abenteuer teil. Er dachte einen Augenblick an die Liebe, die ihn verzehrt hatte; wie unbedeutend kam ihm diese Liebe nun angesichts der Erregung vor, die ihm hier das Herz sprengte. Das Bild, das er ansah, war groß. Häuser drängten sich auf einem Hügel zusammen, in einer Ecke hielt ein Knabe eine Karte von der Stadt, in der andern war eine klassische Gestalt, die den Fluss Tagus versinnbildlichte, im Himmel schwebte die Jungfrau Maria, von Engeln umgeben. Es war eine Landschaft, die allen Vorstellungen Philips fremd war, denn er hatte in Kreisen gelebt, die einem exakten Realismus huldigten, und doch fand er hier, zu seinem eigenen Befremden, eine Wirklichkeit, die größer war als alles, was die Meister gestalteten, in deren Fußstapfen er demütig getreten war. Er hörte Athelny sagen, die Darstellung sei so wirklichkeitsgetreu, dass die Bürger von Toledo, wenn sie das Bild betrachteten, ihre eigenen Häuser darauf wiedererkannten. Der Maler hatte genau gemalt, was er sah, aber er hatte mit geistigen Augen gesehen. Es war etwas Unirdisches an dieser blassgrauen Stadt. Es war eine Stadt der Seele, in einem vergehenden Licht betrachtet, das weder das Licht der Nacht noch des Tages war. Sie stand auf einem grünen Hügel, aber das Grün war nicht von dieser Welt; sie war von massiven Mauern und Bastionen umgeben, gegen die keine von Menschen erdachten Maschinen anstürmen konnten, sondern nur Gebete und Fasten, Schmerzensseufzer und Kasteiungen des Fleisches. Es war eine Festung Gottes. Die grauen Häuser darauf waren aus Steinen gebaut, die kein Steinmetz kannte, ihr Anblick hatte etwas Grauenerregendes, und man konnte sich nicht vorstellen, welcher Art die Menschen sein mochten, die darin lebten. Man mochte dort wohl durch die Straßen wandern und erstaunt sein, weil niemand sich zeigte, aber sie würden nicht leer sein, denn überall fühlte man die Gegenwart des Unsichtbaren, das sich doch so sichtbar den inneren Sinnen offenbarte. Es war eine mystische Stadt, in der die Phantasie taumelte wie jemand, der aus dem Licht in die Dunkelheit tritt; dort ging die Seele unverhüllt, wusste, was man nicht wissen konnte, und war sich der Erfahrung des tief vertrauten, aber nicht ausdrückbaren Absoluten bewusst. Und ohne Überraschung sah man in diesem blauen Himmel, dessen Wirklichkeit sich nicht den Augen, sondern der Seele offenbarte, mit seinen dahineilenden leichten Wolken, die seltsame Winde wie Schreie und Seufzer verlorener Seelen vor sich hertrieben – sah man die Heilige Jungfrau im roten Gewand mit dem blauen Mantel, umgeben von geflügelten Engeln. Philip fühlte, dass die Bewohner dieser Stadt die Erscheinung ohne Erstaunen, fromm und dankbar, betrachten würden, um dann ruhig weiter ihres Weges zu gehen.
Athelny sprach von den mystischen Dichtern Spaniens, von Teresa de Ávila, San Juan de la Cruz, Fray Diego de León; in ihnen allen lebte die Leidenschaft für das Unbekannte, das Philip in den Bildern El Grecos spürte, sie schienen die Kraft zu haben, das Körperlose zu berühren und das Unsichtbare zu sehen. Sie waren Spanier ihres Zeitalters, in denen alle Heldentaten einer großen Nation mitschwangen: Ihre Phantasie war voll der Herrlichkeit Amerikas und der grünen Inseln der Karibischen See; in ihren Adern war die Kraft des jahrhundertelangen Kampfes gegen die Mauren; sie waren stolz, denn sie waren die Herren der Welt, und in sich fühlten sie die weiten Entfernungen, die gelbbraunen Wüsten, die schneebedeckten Berge Kastiliens, den Sonnenschein, den blauen Himmel und die Blumenfelder Andalusiens. Das Leben war leidenschaftlich und vielfältig, und da es so viel bot, spürten sie einen rastlosen Drang nach mehr; da sie Menschen waren, waren sie unersättlich, und mit ihrer drängenden Vitalität strebten sie
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