Der Menschen Hoerigkeit
Handschuhe zuzuknöpfen. Ehe sie ging, wandte sie sich noch einmal mit freundlichem, leicht verlegenem Lächeln an Philip.
»Sie bleiben doch zum Tee? Athelny hat so gern jemanden da, mit dem er reden kann, und er findet nicht oft einen Menschen, der klug genug ist.«
»Natürlich bleibt er zum Tee«, sagte Athelny. Als seine Frau dann gegangen war, erklärte er: »Ich achte darauf, dass die Kinder zur Sonntagsschule gehen, und ich sehe auch gern, wenn Betty zur Kirche geht. Ich finde, Frauen sollten religiös sein. Ich selbst glaube nicht daran, sehe es aber gern bei Frauen und Kindern.«
Philip, der es mit der Wahrheit sehr genau nahm, war leicht schockiert über diese leichtfertige Haltung.
»Aber wie können Sie es mit ansehen, dass man Ihren Kindern Dinge beibringt, die Sie selbst nicht für wahr halten?«
»Wenn sie schön sind, dann macht es mir nicht viel aus, ob sie wahr sind oder nicht. Es ist viel verlangt, dass Dinge an die Vernunft ebenso appellieren sollen wie an den Sinn für Ästhetik. Ich wollte, dass Betty katholisch würde; es wäre schön gewesen, sie konvertiert zu sehen, mit einer Krone von Papierblumen, aber sie ist hoffnungslos protestantisch. Übrigens ist Religion eine Sache des Temperaments; man glaubt an alles Mögliche, wenn man eine religiöse Ader hat, und wenn man diese nicht hat, ist es gleichgültig, welcher Glaube einem beigebracht worden ist, man entwächst ihm. Vielleicht ist Religion die beste Schule für Moral. Sie ist wie eine jener Arzneien, die Sie in der Medizin verwenden, um eine andere in eine Lösung zu verwandeln. Sie hat selbst keine Wirkung, aber sie ermöglicht es der anderen, absorbiert zu werden. Man nimmt die Moral hin, weil sie mit der Religion verbunden ist; verliert man die Religion, bleibt die Moral zurück. Ein Mensch ist eher ein guter Mensch, wenn er das Gute durch Gottes Liebe gelernt hat als durch Herbert Spencer.«
Das war ganz gegen Philips Ansichten. Christentum war für ihn eine degradierende Knechtschaft, der man sich auf jeden Fall entledigen musste. In seinem Unterbewusstsein war es mit den langweiligen Gottesdiensten in der Kathedrale von Tercanbury verbunden und mit den langen Stunden in der kalten Kirche von Blackstable. Und die Moral, von der Athelny sprach, war für ihn nicht mehr als ein Teil der Religion, den sich zögerliche Intellektuelle bewahrten, wenn sie den Glauben längst abgelegt hatten, der diese Moral allein vernünftig macht.
Während Philip noch darüber nachdachte, was er antworten sollte, hatte Athelny, der sich lieber selbst reden hörte als diskutierte, eine ganze Tirade über den römischen Katholizismus losgelassen. Er bildete für ihn einen wesentlichen Teil Spaniens, und Spanien bedeutete ihm viel, weil er dorthin entflohen war aus der konventionellen Enge, die ihm sein Eheleben so zuwider gemacht hatte. Mit großen Gesten und dem emphatischen Ton, der alles, was er erzählte, so ungewöhnlich lebendig machte, beschrieb Athelny Philip die spanischen Kathedralen mit ihren ungeheuren dunklen Räumen, dem massiven Gold der Altarstücke, dem prächtigen schmiedeeisernen Gitterwerk in seiner verblichenen Vergoldung, die weihraucherfüllte Luft, die Stille. Philip sah die Kanoniker in ihren kurzen Batistchorhemden und die Ministranten in Rot fast leibhaftig vor sich, wie sie von der Sakristei zum Chor schritten; er hörte beinahe die monotonen Vespergesänge. Die Namen, die Athelny erwähnte: Avila, Tarragona, Saragossa, Segovia, Córdoba fuhren ihm wie Trompetenstöße ins Herz. Er meinte die großen grauen Granitberge der alten spanischen Städte zu sehen, inmitten der bräunlichen, wilden, winddurchwehten Landschaft.
»Ich habe immer gedacht, ich würde schrecklich gern einmal nach Sevilla gehen«, sagte er beiläufig, als Athelny mit dramatisch erhobener Hand einen Augenblick innegehalten hatte.
»Sevilla!«, rief Athelny. »Nein, nein, gehen Sie nicht dorthin! Sevilla: Da stellt man sich sofort Mädchen vor, die beim Geklapper der Kastagnetten tanzen, Gesänge in den Gärten am Guadalquivir, Stierkämpfe, Orangenblüten, Mantillas, mantones de Manila. Es ist das Spanien der komischen Oper und des Montmartre. Sein leichter Charme kann nur einer oberflächlichen Intelligenz beständige Unterhaltung bieten. Théophile Gautier hat schon alles aus Sevilla herausgeholt, was herauszuholen war. Wir, die wir nach ihm kommen, können seine Erlebnisse nur wiederholen. Mit großen fleischigen Händen hat er das Banale
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