Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
Vom Netzwerk:
leidenschaftlich nach dem Unaussprechlichen. Athelny war sehr angetan, jemanden gefunden zu haben, dem er die Übersetzungen, mit denen er sich seine Mußestunden vertrieben hatte, vorlesen konnte. Mit seiner feinen, vibrierenden Stimme trug er den Lobgesang der Seele und Christi, ihres Bräutigams, vor, jenes liebliche Gedicht, das mit den Worten en una noche oscura beginnt, und dann die noche serena von Fray Luis de León. Er hatte sie sehr schlicht und nicht ohne Geschick übertragen, und er hatte Worte dafür gefunden, die jedenfalls die rohbehauene Größe des Originals andeuteten. Die Bilder El Grecos erläuterten sie, und sie wiederum erklärten die Bilder.
    Philip hatte eine gewisse Abneigung gegen den Idealismus. Er hatte immer eine Leidenschaft für das Leben gehabt, und der Idealismus, dem er begegnet war, war ihm meistens als ein feiges Zurückschrecken davor erschienen. Der Idealist zog sich zurück, weil er das Gedränge der menschlichen Menge nicht ertragen konnte; er hatte nicht die Stärke zu kämpfen und bezeichnete daher den Kampf als vulgär. Er war eitel, und da ihn seine Freunde nicht in seiner Eigenart akzeptieren wollten, tröstete er sich damit, diese Freunde zu verachten. Philips Beispiel dafür war Hayward, blond, träge, schon jetzt zu dick und ziemlich kahlköpfig, der noch immer die Überreste seines guten Aussehens hegte und plante, in einer unbestimmten Zukunft erlesene Dinge zu tun; dies alles vor dem Hintergrund von Whisky und vulgären Liebesabenteuern. In Reaktion auf Hayward schrie Philip nach dem Leben, wie es eben war; Gemeinheit, Laster und Hässlichkeit stießen ihn nicht ab; er erklärte, dass er Menschen in ihrer Nacktheit wolle, und er rieb sich die Hände, wenn er mit Gemeinheit, Grausamkeit, Egoismus und Wollust konfrontiert wurde: Das war das wirkliche Leben. In Paris hatte er gelernt, dass es weder Hässlichkeit noch Schönheit, sondern nur Wahrheit gab: Das Suchen nach Schönheit war sentimental. Hatte er nicht eine Werbetafel von Chocolat Menier vor eine Landschaft gemalt, um der Tyrannei der Schönheit zu entkommen?
    Aber hier spürte er eine Ahnung von neuen Dingen. Er war, wenn auch zögernd, seit einiger Zeit auf dem Weg dahin, jetzt aber erst kam ihm diese Tatsache zu Bewusstsein. Er spürte, dass ihm eine neue Entdeckung bevorstand. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass es etwas Besseres gab als den Realismus, den er bisher verehrt hatte; keineswegs aber handelte es sich um den blutlosen Idealismus, der sich – aus Schwäche – vom Leben zurückzog. Es war zu stark, es war zu männlich, es nahm das Leben in all seiner Lebenskraft, Schönes und Hässliches, Gemeines und Hochherziges hin. Es war noch Realismus, aber Realismus auf höherer Ebene, wo die Tatsachen durch das lebendigere Licht, das auf sie fiel, verwandelt erscheinen. Es war ihm, als blickte er, durch die ernsten Augen dieser toten Edelleute von Kastilien, tiefer. Die Gebärden der Heiligen, die ihm erst wild und verzerrt erschienen waren, bekamen jetzt einen geheimnisvollen Sinn. Was es war, hätte er nicht sagen können. Wie eine Botschaft, die sehr wichtig für ihn war, die ihm aber in einer fremden Sprache überbracht worden war, und er konnte sie nicht verstehen. Immer war er auf der Suche nach einem Sinn im Leben, und hier schien ein Sinn zu liegen, aber er war dunkel und undeutlich.
    Er war zutiefst beunruhigt. Er sah die Wahrheit auftauchen, wie man eine Gebirgskette beim Aufzucken der Blitze in stürmisch dunkler Nacht sehen mag. Es schien ihm, als erkenne er, dass der Mensch sein Schicksal nicht dem Zufall zu überlassen brauchte, dass vielmehr sein Wille mächtig war; er meinte zu erkennen, dass Selbstbeherrschung genauso leidenschaftlich und aktiv sein kann wie die Hingabe an eine Leidenschaft. Es schien ihm, dass das innere Leben so mannigfaltig, so reich an Erfahrung und Abwechslung sein kann wie das Leben dessen, der Königreiche erobert und unbekannte Länder entdeckt.
    89
     
    Die Unterhaltung zwischen Philip und Athelny wurde durch Getrappel auf der Treppe unterbrochen. Athelny öffnete den Kindern, die von der Sonntagsschule zurückkehrten; sie kamen lachend und lärmend herein. Heiter fragte er sie, was sie gelernt hatten, Sally erschien auf einen Augenblick, um ihrem Vater von der Mutter auszurichten, dass er sich um die Kinder kümmern solle, während sie den Tee bereite. Athelny fing an, ihnen eine Geschichte von Andersen zu erzählen. Es waren keine schüchternen Kinder,

Weitere Kostenlose Bücher