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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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gemeinster Weise. Sie ergriff die Klinke und riss die Tür auf. Dann drehte sie sich noch einmal um und schmiss ihm die Kränkung ins Gesicht, von der sie wusste, dass sie allein ihn wirklich traf. Sie legte alle Boshaftigkeit und all das Gift, über das sie verfügte, in dieses eine Wort. Sie schleuderte es ihm entgegen, als wäre es ein Faustschlag:
    »Krüppel!«
    97
     
    Am nächsten Morgen erwachte Philip mit einem Ruck aus tiefem Schlaf – es musste schon spät sein. Er sah auf die Uhr: Es war bereits neun. Er sprang aus dem Bett und ging in die Küche, um sich etwas heißes Wasser zum Rasieren zu holen. Von Mildred war nichts zu sehen; das Geschirr vom Vorabend lag noch schmutzig im Spülbecken. Er klopfte bei ihr an.
    »Aufstehen, Mildred! Es ist schon schrecklich spät.«
    Keine Antwort – auch nicht, nachdem er ein zweites Mal, besonders laut, geklopft hatte. Er nahm deshalb an, dass sie schmollte. Nun, er konnte sich nicht darum kümmern, er hatte es zu eilig. Er stellte Wasser aufs Feuer und sprang in sein Bad, das schon immer am Abend vorher eingelassen wurde, damit es nicht gar zu kalt sei. Mildred würde inzwischen wahrscheinlich sein Frühstück zurechtmachen und im Wohnzimmer bereitstellen. Sie hatte das schon ein paarmal gemacht, wenn sie schlechter Laune war. Aber nichts regte sich. Das bedeutete also, dass er sich sein Frühstück selbst machen musste, wenn er überhaupt etwas zu essen haben wollte. Er war gereizt, weil sie ihm das gerade an einem Morgen antat, wo er sowieso schon zu spät aufgestanden war. Sie ließ sich auch nicht blicken, als er sich fertig angekleidet hatte, aber er hörte, wie sie in ihrem Zimmer umherging. Offenbar stand sie gerade auf. Er machte sich Tee, richtete sich Butterbrote und aß sie, während er sich die Stiefel zuschnürte; dann lief er eilig los, die Hauptstraße hinunter, um seine Elektrische zu erreichen. Während seine Augen an den Zeitungsständen nach den neuesten Kriegsnachrichten suchten, dachte er an die Szene von gestern Abend: Jetzt, wo es vorbei war und er eine Nacht darüber geschlafen hatte, konnte er sich nicht helfen, er fand es grotesk. Er hatte sich wahrscheinlich ziemlich albern benommen, aber er war nicht Herr seiner Gefühle gewesen, sie hatten ihn einfach überwältigt. Er war wütend auf Mildred, weil sie ihn in diese lächerliche Lage gebracht hatte. Dann fiel ihm wieder ein, wie ausfällig sie geworden war, und er staunte von neuem über die üble Sprache, derer sie sich bedient hatte. Unwillkürlich errötete er, als er an ihren letzten Hieb dachte, aber er zuckte nur verächtlich die Achseln. Es war ihm schon so oft passiert, dass seine Mitmenschen, wenn sie auf ihn wütend waren, auf sein Gebrechen anspielten. Männer im Krankenhaus hatten seinen Gang imitiert, nicht direkt vor seinen Augen, wie in der Schule, sondern wenn sie dachten, er sähe sie nicht. Er wusste mittlerweile, dass sie es nicht aus Böswilligkeit heraus taten, sondern weil der Mensch von Natur aus ein nachahmendes Wesen ist und weil man damit die Menschen einfach zum Lachen bringen konnte: Er wusste es, konnte sich aber nie damit abfinden.
    Er war froh, sich in die Arbeit stürzen zu können. Die Krankensäle schienen ihm heute besonders angenehm und freundlich. Die Schwester begrüßte ihn mit einem schnellen, geschäftsmäßigen Blick.
    »Sie kommen heute sehr spät, Mr.   Carey.«
    »Ich habe gestern Abend gebummelt.«
    »Das sieht man Ihnen an.«
    »Danke vielmals.«
    Lachend ging er zu seinem ersten Fall, einem Knaben mit tuberkulösen Geschwüren, und nahm ihm die Verbände ab. Der Junge freute sich, als er ihn kommen sah, und Philip neckte ihn, während er seine Wunden neu verband. Philip war bei den Patienten sehr beliebt. Er behandelte sie freundlich und hatte zarte, vorsichtige Hände, die ihnen keine Schmerzen zufügten: Manche der anderen Praktikanten waren etwas grob und unbeholfen. Er nahm seinen Lunch mit Freunden im Klubzimmer ein; es war eine einfache Mahlzeit: eine Tasse Kakao, ein wenig Gebäck. Sie sprachen über den Krieg. Etliche hatten vor, daran teilzunehmen; aber die Behörden nahmen es sehr genau und wiesen alle ab, die noch keine Krankenhausstellung gehabt hatten. Einer äußerte die Meinung, dass man, wenn der Krieg noch lange dauerte, jeden nehmen würde, der sein Studium beendet hatte; aber die allgemeine Ansicht war, dass der Krieg in einem Monat aus sein würde. Jetzt, wo man Roberts hingeschickt hatte, würde alles im Handumdrehen

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