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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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ihrer gemeinsamen Vergangenheit kam es ihr in den Sinn, dass er sich vor der Möglichkeit fürchtete, sie könnte schwanger werden. Sie bemühte sich, ihn zu beruhigen. Es änderte nichts. Sie gehörte zu jener Art Frauen, die sich nicht vorstellen kann, dass ein Mann ihre eigene sexuelle Besessenheit nicht teilt; ihre Beziehungen zu Männern waren immer auf dieses Gebiet beschränkt gewesen, und sie konnte nicht verstehen, dass diese je andere Interessen hatten. Es kam ihr der Gedanke, dass sich Philip in jemand anderen verliebt haben könnte, und sie beobachtete ihn; sie hatte die Krankenschwestern oder Leute, die er auswärts traf, in Verdacht; aufgrund listiger Fragen kam sie aber zu dem Schluss, dass es niemand Gefährlichen im Athelny-Haushalt gab; und sie fand außerdem heraus, dass Philip, wie die meisten Medizinstudenten, die Schwestern, mit denen er beruflich zu tun hatte, nicht als Frauen wahrnahm. In seinem Bewusstsein setzte er sie mit einem leichten Geruch von Iodoform gleich. Philip bekam keine Briefe, und es gab keine Fotografien von Mädchen unter seinen Sachen. Wenn er in jemanden verliebt war, konnte er dies jedenfalls sehr geschickt verbergen. Er beantwortete Mildreds Fragen offen und allem Anschein nach ohne den Verdacht, dass irgendetwas dahinterstecken könnte.
    ›Ich glaube nicht, dass er in jemand anderen verliebt ist‹, sagte sie sich schließlich.
    Das war eine Erleichterung, denn in diesem Falle liebte er sie noch immer; aber sein Benehmen erschien deshalb nicht weniger merkwürdig. Wenn er sie so behandeln wollte, warum hatte er sie dann gebeten, in seine Wohnung zu ziehen? Das war nicht natürlich. Mildred war keine Frau, die die Möglichkeit von Mitleid, Großzügigkeit oder Freundlichkeit begriff. Der einzige Schluss, den sie daraus zog, war, dass Philip ein Sonderling sei. Sie setzte sich in den Kopf, die Gründe für sein Benehmen müssten ritterlicher Natur sein. Und da ihre Phantasie voll von Überspanntheiten war, wie sie in Groschenromanen vorkommen, dachte sie sich alle Arten romantischer Erklärungen für seine Scheu aus. Ihre Phantasie schwelgte in bitteren Missverständnissen, Reinigung durch Feuer, schneeweißen Seelen und Tod in der grausamen Kälte einer Christnacht. Sie war entschlossen, all diesem Unsinn ein Ende zu machen, sobald sie nach Brighton gingen; sie würden dort ganz allein sein, jeder würde glauben, sie wären verheiratet. Als sie feststellte, dass sie Philip nicht bewegen konnte, das Zimmer mit ihr zu teilen, und als er dabei in einem Ton zu ihr sprach, den sie nie zuvor gehört hatte, wurde ihr plötzlich klar, dass er sie nicht mehr wollte. Sie war erstaunt. Sie erinnerte sich an alles, was er ihr in der Vergangenheit gesagt hatte, und wie heiß er sie geliebt hatte. Sie fühlte sich erniedrigt, und sie war verärgert, aber sie hatte eine Art angeborener Unverfrorenheit, die ihr weiterhalf. Er brauchte nicht zu glauben, sie wäre in ihn verliebt, denn das war sie wirklich nicht. Sie hasste ihn manchmal, und sie sehnte sich danach, ihn zu demütigen; aber sie fühlte sich merkwürdig machtlos; sie wusste nicht, wie sie ihn behandeln sollte. Er machte sie nervös. Ein- oder zweimal weinte sie. Ein- oder zweimal zwang sie sich, besonders nett zu ihm zu sein, aber wenn sie seinen Arm nahm, während sie miteinander in der Nacht spazieren gingen, suchte er nach einer Weile irgendeine Entschuldigung, um sich zu befreien, als wäre es für ihn unangenehm, von ihr berührt zu werden. Sie wurde nicht klug daraus. Den einzigen Einfluss auf ihn hatte sie durch das Kind, das er von Tag zu Tag mehr liebzugewinnen schien; er wurde weiß vor Zorn, wenn sie dem Kind einen Klaps oder einen Stoß gab; und sein altes zärtliches Lächeln trat nur in seine Augen, wenn sie mit dem Baby im Arm vor ihm stand. Sie merkte dies, als sie in dieser Stellung von einem Fotografen am Strand geknipst wurde, und nachher stand sie dann oft so vor Philip, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
    Als sie nach London zurückkehrten, begann sie sich nach Arbeit umzusehen; sie hatte behauptet, es wäre einfach, welche zu finden. Sie wollte nun von Philip unabhängig sein, und sie dachte daran, mit welcher Genugtuung sie Philip ankündigen würde, dass sie in eine eigene Wohnung ziehen und das Kind mit sich nehmen würde. Aber ihr Mut verließ sie, als diese Möglichkeit näher rückte. Sie war lange Arbeitszeiten nicht mehr gewohnt, es widerstrebte ihr, auf einen Wink oder auf einen Ruf

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