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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Summe von Lawson zu borgen. Er blieb den ganzen Tag über im Park und rauchte seine Pfeife, wenn ihn der Hunger überkam. Er wollte nicht eher essen, als bis es Zeit war, sich auf den Weg nach London zu machen. Ein langer Weg lag vor ihm, und er musste alle Kraft dafür sammeln. Er ging los, als es kühler wurde, und schlief auf Bänken, wenn er müde war. Niemand störte ihn. In der Victoria-Station wusch er sich, bürstete seine Kleider ab und ließ sich rasieren. Er aß etwas Brot und Butter zum Tee und las dabei den Annoncenteil der Zeitung. Beim Überfliegen fiel sein Blick auf ein Stellenangebot. Eine bekannte Firma suchte einen Verkäufer in der Möbelstoffabteilung. Das Herz wurde ihm seltsam schwer, denn es schien ihm bei seinen bürgerlichen Vorurteilen grauenhaft, sich in einem Laden zu bewerben. Aber schließlich zuckte er nur die Schultern. Was machte es schon aus? Er entschloss sich, sein Glück zu versuchen. Er hatte ein komisches Gefühl, als zwänge er die Hand des Schicksals, wenn er jede Demütigung hinnähme, ja sie suchte. Als er sich, ganz schüchtern, um neun Uhr im Warenhaus einstellte, waren schon viele andere Bewerber da. Alle Altersgruppen waren vertreten, von sechzehnjährigen Jungen bis zu vierzigjährigen Männern. Manche sprachen leise miteinander, die meisten jedoch schwiegen. Als er seinen Platz einnahm, sah man ihn mit feindseligen Blicken an. Er hörte, wie ein Mann sagte:
    »Ich hoffe nur, dass ich meine Absage schnell genug bekomme, damit ich mich noch woanders bewerben kann.«
    Der Mann, der neben Philip stand, betrachtete ihn prüfend und fragte dann: »Fachkenntnisse?«
    »Nein«, sagte Philip.
    Er schwieg einen Augenblick und bemerkte: »Selbst bei kleinen Firmen werden Sie nicht vor dem Essen vorgelassen, wenn Sie keinen Termin haben.«
    Philip betrachtete die Verkäufer. Einige drapierten Chintz und Kretonne, und andere, so erzählte ihm sein Nachbar, machten Bestellungen versandfertig, die per Post vom Land eingetroffen waren. Gegen viertel zehn erschien der Einkäufer. Er hörte einen der Männer zu einem Wartenden sagen, das sei Mr.   Gibbons. Mr.   Gibbons war im mittleren Alter, untersetzt und füllig, mit schwarzem Bart und dunklen, fettigen Haaren. Er hatte lebhafte Bewegungen und ein kluges Gesicht. Er trug Zylinder und Gehrock, in dessen Knopfloch eine Geranienblüte, von Blättern umgeben, steckte. Er ging in sein Büro und ließ die Tür offen stehen. Es war ein kleiner Raum, der nichts weiter enthielt als ein amerikanisches Rollpult, das in der Ecke stand, ein Bücherbrett und einen Schrank. Die Männer, die draußen standen, beobachteten, wie er mechanisch die Geranie aus dem Knopfloch nahm und in ein Tintenfass steckte, das mit Wasser gefüllt war. Es widersprach der Hausordnung, im Geschäft Blumen zu tragen.
    (Im Laufe des Tages kamen die Leute, die sich mit dem Direktor gut stellen wollten, und bewunderten die Blume.
    »Das ist die schönste, die ich je gesehen habe«, sagten sie. »Sie haben sie doch nicht selbst gezogen?«
    »Doch, das habe ich«, lächelte er, und in seine klugen Augen trat ein Schimmer der Freude und des Stolzes.)
    Er nahm den Hut ab und zog eine andere Jacke an, warf einen schnellen Blick auf die Post und dann auf die Männer, die zu ihm wollten. Er gab mit einem Finger ein kleines Zeichen, und der Erste aus der Reihe trat in das Büro. Sie zogen einer nach dem andern an ihm vorbei und beantworteten seine Fragen. Er stellte knappe Fragen und ließ den Blick fest auf dem Gesicht des Bewerbers ruhen.
    »Alter? Fachkenntnisse? Warum haben Sie Ihre alte Stellung aufgegeben?«
    Er hörte sich die Antworten an, ohne dass sein Gesicht den geringsten Ausdruck erkennen ließ. Als Philip an die Reihe kam, bildete er sich ein, dass Mr.   Gibbons ihn verwundert und neugierig anstarrte. Philips Anzug sah sauber aus und war von recht gutem Schnitt. Er sah ein wenig anders aus als die andern.
    »Fachkenntnisse?«
    »Leider keine«, sagte Philip.
    »Können wir nicht brauchen.«
    Philip verließ das Büro. Die Sache war um so vieles weniger peinlich gewesen, als er erwartet hatte. Er fühlte sich kaum enttäuscht. Er konnte wirklich nicht hoffen, gleich beim ersten Versuch eine Stellung zu bekommen. Er hatte die Zeitung aufbewahrt und sah sich nochmals die Annoncen durch: Ein Laden in Holborn brauchte ebenfalls einen Verkäufer; er ging hin; als er jedoch ankam, war die Stelle bereits vergeben. Wenn er heute etwas zu essen bekommen wollte, musste er

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