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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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nicht richtig anfing oder ob sein Onkel einfach nicht verstand, in welcher verzweifelten Situation er sich befand, jedenfalls antwortete er, er werde seine Entscheidung nicht ändern, Philip sei fünfundzwanzig Jahre alt und müsste sich eigentlich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Wenn er sterbe, werde Philip ein wenig Geld erben, aber vorher könne er ihm leider keinen Penny geben. Philip spürte in dem Brief die Genugtuung eines Menschen, der seit Jahren eine Sache missbilligt hatte und dem dann endlich bestätigt wird, dass seine Haltung berechtigt war.
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    Philip fing an, seine Anzüge aufs Leihhaus zu tragen. Er beschnitt seine Ausgaben, indem er außer dem Frühstück nur noch eine Mahlzeit zu sich nahm. Diese eine Mahlzeit, die aus Brot, Butter und Kakao bestand, aß er um vier Uhr nachmittags, damit er bis zum nächsten Morgen durchhielt. Gegen neun Uhr war er dann so hungrig, dass er zu Bett gehen musste. Er überlegte sich, von Lawson Geld zu borgen; aber die Angst, dass dieser ihn abweisen könnte, hielt ihn zurück. Endlich bat er ihn doch um fünf Pfund. Lawson lieh sie ihm gern, sagte jedoch, als er sie ihm überreichte:
    »Du gibst sie mir in ungefähr einer Woche wieder, nicht? Ich muss nämlich dem Tischler die Rahmen bezahlen und bin gerade etwas knapp.«
    Philip wusste, er würde das Geld nicht zurückgeben können. Was Lawson dann von ihm denken würde, erfüllte ihn so sehr mit Scham, dass er nach wenigen Tagen das Geld unberührt zurückbrachte. Lawson wollte gerade Mittag essen gehen und lud Philip ein. Philip konnte kaum essen; er war so froh, wieder einmal etwas Ordentliches in den Magen zu bekommen. Sonntags durfte er immer auf ein Mittagessen bei den Athelnys rechnen. Er zögerte, ihnen von seinem Missgeschick zu erzählen. Sie hatten ihn immer als verhältnismäßig wohlhabend angesehen, und er hatte Angst, sie könnten weniger gut von ihm denken, wenn sie erfuhren, dass er völlig mittellos war.
    Obwohl er immer arm gewesen war, war es ihm doch nie in den Sinn gekommen, dass er eines Tages nicht genug zum Essen haben könnte. So etwas geschah in seinen Kreisen nicht. Er schämte sich so, als hätte er eine scheußliche Krankheit. Die Lage, in der er sich befand, war ganz außerhalb seines Erfahrungshorizonts. Er war so bestürzt, dass er nicht wusste, was er tun sollte, und einfach weiter zum Hospital ging. Er hatte eine unbestimmte Hoffnung, dass irgendetwas geschehen würde. Er konnte nicht recht glauben, dass das, was sich hier zutrug, wahr war. Es fiel ihm ein, dass er während seiner frühen Schulzeit sein Leben oft für einen Traum gehalten hatte, aus dem er eines Tages erwachen und sich wieder zu Hause finden würde. Aber bald musste er feststellen, dass er in etwa einer Woche völlig ohne Geld dastehen würde. Er musste sich also daranmachen, irgendeinen Verdienst aufzuspüren. Hätte er seine Examen schon hinter sich, so könnte er trotz des Klumpfußes zum Kap hinausfahren: Mediziner waren sehr gefragt. Ohne seine Verkrüppelung hätte er sich bei einem der Freiwilligenregimenter melden können, die in einem fort hinuntergeschickt wurden. Er ging zum Sekretär der Medizinischen Fakultät und fragte an, ob man ihm vielleicht einen schlechten Studenten zum Nachhilfeunterricht geben könnte. Der Sekretär machte ihm jedoch keine Hoffnungen. Philip las die Annoncen der medizinischen Zeitschriften und bewarb sich um die Stelle eines ungelernten Assistenten bei einem Mann, der in Fulham Road eine Apotheke besaß. Als er sich vorstellte, sah er, dass der Arzt seinen Klumpfuß bemerkte. Und als er dann hörte, dass Philip erst im vierten Jahr am Hospital war, meinte er, er besäße noch nicht genug Erfahrung. Philip wusste, dass das eine Ausflucht war: der Mann wollte keinen Assistenten haben, der vielleicht nicht so beweglich sein konnte, wie er es von ihm verlangte. Philip richtete sein Augenmerk auf andere Verdienstmöglichkeiten. Er konnte Französisch und Deutsch und hoffte, vielleicht als Korrespondent Arbeit zu finden. Es fiel ihm zwar schwer, aber er biss die Zähne zusammen, denn es blieb ihm kein anderer Ausweg. Er war zu schüchtern, sich um Stellen zu bemühen, bei denen er sich persönlich vorstellen musste, bewarb sich jedoch dort, wo eine schriftliche Bewerbung verlangt wurde. Er konnte sich indes keiner Erfahrung rühmen und besaß keine Empfehlungen. Er war sich bewusst, dass weder sein Deutsch noch sein Französisch sich für Geschäftszwecke eignete; er

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