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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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konnte ihn zum Weinen bringen. Sie fragten ihn, warum er vorigen Sonntag nicht gekommen wäre, und er erzählte ihnen, er sei krank gewesen. Sie wollten wissen, was ihm denn gefehlt habe. Philip erfand, um sie zu unterhalten, eine geheimnisvolle Krankheit. Die unverständliche und barbarische Bezeichnung, ein Gemisch von Griechisch und Latein (die medizinischen Namen hatten das so an sich), löste eine stürmische Lachsalve aus. Sie schleppten Philip in den Salon, wo er zur Erbauung ihres Vaters das Wort nochmals wiederholen musste. Athelny stand auf und gab ihm die Hand. Er starrte Philip an; aber man hatte immer das Gefühl, dass er einen anstarrte, wenn er die runden, etwas hervorstehenden Augen auf jemanden richtete. Philip wusste nicht, warum es ihn diesmal verlegen machte.
    »Wir haben Sie am letzten Sonntag vermisst«, sagte er.
    Philip konnte nie ohne Befangenheit lügen; er war scharlachrot, als er seine Entschuldigung hervorbrachte. Dann kam Mrs.   Athelny herein und gab ihm die Hand. »Hoffentlich geht es Ihnen wieder besser, Mr.   Carey«, sagte sie.
    Er wusste nicht, wie sie auf den Gedanken kam, dass er sich nicht wohl gefühlt habe. Die Küchentür war geschlossen gewesen, als er die Treppe hinaufstieg, und die Kinder waren nicht von seiner Seite gewichen.
    »Das Essen wird erst in zehn Minuten fertig sein«, sagte Mrs. Athelny in ihrer langsamen Art. »Soll ich Ihnen nicht vorher ein Ei in ein Glas Milch schlagen?«
    Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Besorgtheit, der Philip ein unbehagliches Gefühl verursachte. Er zwang sich zum Lachen und antwortete, er hätte gar keinen Hunger. Sally kam herein, um den Tisch zu decken, und Philip neckte sie. Es war der Familienscherz, dass sie eines Tages so fett sein würde wie eine Tante von Mrs.   Athelny, Tante Elisabeth, die die Kinder noch niemals zu Gesicht bekommen hatten, die aber von ihnen als Verkörperung von geradezu unanständiger Korpulenz betrachtet wurde.
    »Na, hör mal, was ist denn geschehen, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe, Sally?«, fing er an.
    »Ich wüsste von nichts.«
    »Ich glaube, du hast zugenommen.«
    »Sie jedenfalls nicht, das ist sicher«, entgegnete sie. »Sie sind das reinste Skelett.«
    Philip errötete.
    »Das ist mal eine Retourkutsche, Sally«, rief ihr Vater. »Du musst zur Strafe ein goldenes Haar von deinem Haupt hergeben. Jane, hole die Schere.«
    »Aber er ist wirklich dünn, Vater«, bestand Sally. »Nichts als Haut und Knochen.«
    »Das ist nicht die Frage, mein Kind. Es steht ihm vollkommen frei, dünn zu sein, aber dein Körperumfang widerspricht dem Anstand.«
    Als er dies sagte, legte er seinen Arm stolz um ihre Taille und sah sie bewundernd an.
    »Lass mich mit dem Tischdecken weitermachen, Vater. Mir geht es bestens, und es gibt manche, denen das nichts auszumachen scheint.«
    »Dieses vorlaute Mädchen!«, schrie Athelny mit einer dramatischen Handbewegung. »Sie hänselt mich wegen der allgemein bekannten Tatsache, dass Joseph, der Sohn von Levi, der Juwelen in Holborn verkauft, ihr einen Heiratsantrag gemacht hat.«
    »Hast du ihn angenommen, Sally?«, fragte Philip.
    »Kennen Sie Vater noch immer nicht? Kein Wort von dem, was er gesagt hat, ist wahr.«
    »Wenn er dir keinen Heiratsantrag gemacht hat«, rief Athelny, »dann werde ich ihn am Kragen packen und ihn sofort fragen, welche Absichten er hat.«
    »Setz dich hin, Vater. Das Essen ist fertig. Nun, Kinder, geht und wascht euch die Hände, aber schummelt nicht, denn ich werde sie anschauen, bevor ihr auch nur einen Happen vom Essen bekommt.«
    Philip fürchtete, er würde wie ein Wolf gefräßig über das Essen herfallen. Als dann aber aufgetragen war, entdeckte er, dass sein Magen die Nahrungsaufnahme verweigerte. Er konnte kaum etwas essen. Der Kopf war ihm schwer, er bemerkte gar nicht, dass Athelny, seiner Gewohnheit zuwider, sehr wenig sprach. Philip war froh, in einem behaglichen Haus zu sitzen, aber er konnte es nicht verhindern, dass er alle Augenblicke aus dem Fenster schaute. Der Tag war stürmisch. Das schöne Wetter war zu Ende, es war kalt, ein bitterer Wind fegte durch die Straßen, zuweilen schlug der Regen gegen das Fenster. Wie würde er die Nacht zubringen? Die Athelnys gingen zeitig zu Bett. Nach zehn Uhr würde er nicht hierbleiben können. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er daran dachte, dass er in die rauhe Dunkelheit der Nacht zurückkehren musste. Es schien ihm jetzt, wo er mit Freunden zusammen war, noch

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