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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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wusste er selbst nicht. Schließlich gelangte er nach Chiswick, wo er sich wieder hinsetzte und schlief. Er wurde wach, weil die Bank so hart war. Die Nacht kam ihm sehr lang vor. Ihn fröstelte. Das Gefühl seines Elends stieg in ihm auf. Was in aller Welt sollte er anfangen? Er schämte sich, auf dem Quai geschlafen zu haben; es verlieh dem Ganzen etwas besonders Demütigendes, und er fühlte im Dunkeln, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Er erinnerte sich an Geschichten von Leuten, die das Gleiche getan hatten: Offiziere, Priester, Akademiker waren darunter. Er fragte sich, ob das nun wohl auch sein Los werden würde, einer der ihren zu sein, in langer Reihe vor Volksküchen um einen Teller Wohlfahrtssuppe anzustehen. Zehnmal besser, Selbstmord zu verüben. So konnte es nicht weitergehen. Lawson würde ihm helfen, wenn er erführe, in welcher Not er sich befand. Lächerlich, dass er sich durch seinen Stolz abhalten ließ, ihn um Hilfe zu bitten. Warum war sein Leben so verfehlt? Stets hatte er getan, was ihm das Beste zu sein schien, und alles hatte zum Schlimmsten geführt. Er hatte geholfen, wo er nur konnte; er glaubte nicht, dass er selbstsüchtiger war als die andern; es erschien ihm furchtbar ungerecht, dass es ihm nun so elend erging.
    Aber es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Er ging weiter. Es war inzwischen hell geworden: Wunderbar schön lag der Fluss da in der Morgenstille, der junge Tag war seltsam geheimnisvoll. Es würde ein schöner Vormittag werden, und der Himmel, blass in der Dämmerung, dehnte sich wolkenlos. Er war sehr müde, der Hunger nagte an seinen Eingeweiden, er konnte nicht stillsitzen, er war in ständiger Furcht, dass ein Polizist ihn ansprechen würde. Grauen packte ihn, wenn er sich diese Demütigung vorstellte. Er kam sich schmutzig vor und wünschte, er könnte sich waschen. Schließlich kam er nach Hampton Court. Wenn er nicht bald etwas zu essen bekam, würde er losheulen. Er suchte sich ein billiges Speisehaus und ging hinein. Es roch nach Essen, der Geruch drehte ihm den Magen um. Er wollte etwas bestellen, das nahrhaft genug war und den Tag über vorhielt; aber der bloße Anblick von Essen widerte ihn an. Er bestellte sich eine Tasse Tee und etwas Butter und Brot. Dann fiel ihm ein, dass es Sonntag war und er zu den Athelnys gehen könnte. Er dachte an das Roastbeef und den Yorkshire-Pudding, den sie essen würden; aber er war so sterbensmüde, er konnte die glücklich lärmende Familie jetzt nicht ertragen. Ihm war verdrießlich und elend zumute. Er wollte allein gelassen werden. Er entschloss sich, in den Schlossgarten zu gehen und sich hinzulegen. Alle Knochen taten ihm weh. Vielleicht würde er an einer Pumpe vorbeikommen, sich waschen und einen Schluck Wasser trinken können – er war so durstig. Jetzt, wo er nicht mehr hungrig war, dachte er mit Freude an die Blumen, die Rasenflächen, die schattigen Bäume mit ihrem Laubwerk. Er meinte, dort würde er besser darüber nachdenken können, was er tun sollte. Er lag im Gras, an einer schattigen Stelle, und zündete sich seine Pfeife an. Aus Sparsamkeitsgründen hatte er sich seit langem auf zwei Pfeifen pro Tag beschränkt. Gut, dass er nun einen gefüllten Tabaksbeutel bei sich trug. Er wusste nicht, was man tat, wenn man kein Geld hatte. Bald darauf schlief er ein. Als er erwachte, war es fast Mittagszeit; er würde sich nun bald auf den Weg machen müssen, um frühmorgens in London zu sein, damit er sich auf Annoncen hin bewerben könne. Er dachte an seinen Onkel, der ihm geschrieben hatte, nach seinem Ableben würde er ein wenig Geld erben. Philip hatte keine Ahnung, wie viel das wohl sein würde: wahrscheinlich nicht mehr als ein paar hundert Pfund. Ob man ihm auf diesen zu erwartenden Erbfall vielleicht etwas leihen würde? Jedenfalls nicht ohne die Einwilligung des alten Herrn, und das würde er niemals tun.
    ›Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich so oder so durchzuschlagen, bis er stirbt.‹
    Philip überschlug sein Alter. Der Vikar von Blackstable war hoch in den Siebzigern. Er litt an chronischer Bronchitis, aber das hatten viele alte Herren und lebten ewig weiter. In der Zwischenzeit musste sich ein Ausweg finden. Philip konnte den Gedanken nicht loswerden, dass sein Zustand völlig unnatürlich war: Leute seiner Klasse verhungerten nicht. Weil er nicht an die Realität seiner Lage glauben konnte, gab er sich der Verzweiflung nicht völlig hin. Er entschloss sich, erst einmal eine kleine

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