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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Arbeit bemühten, bereits vom Sehen. Manche versuchten mit ihm Freundschaft zu schließen; aber er war zu müde und zu elend, um auf ihre Freundlichkeit einzugehen. Er besuchte Lawson nicht mehr, weil er ihm fünf Shilling schuldete. Er war so benommen, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte, und er hatte aufgehört, sich Sorgen darüber zu machen, was aus ihm werden würde. Er weinte ziemlich viel. Zuerst war er sehr wütend auf sich selbst und beschämt, aber es erleichterte ihn, und er fühlte sich dann komischerweise weniger hungrig. In den frühen Morgenstunden litt er sehr unter der Kälte. Eines Nachts ging er in sein Zimmer zurück, um die Wäsche zu wechseln; er schlüpfte heimlich gegen drei Uhr nachts hinein, als er wusste, dass alle schliefen, und ging um fünf Uhr wieder fort. Er lag auf dem Bett und genoss das weiche Lager. Alle Knochen taten ihm weh, und er empfand die Ruhe wie einen Traum. Es war so köstlich, dass er nicht einschlafen mochte. Er gewöhnte sich langsam an den Mangel an Nahrung und spürte den Hunger kaum mehr. Er fühlte sich nur sehr schwach. Beständig kehrte der Gedanke wieder, es wäre das Beste, Schluss zu machen; aber er ließ nicht zu, dass dieser Gedanke die Oberhand gewann; er hatte Angst, die Versuchung könnte so stark werden, dass sie ihn überwältigte. Er sagte sich immer von neuem, dass es lächerlich sei, Selbstmord zu begehen; denn irgendetwas musste ja in absehbarer Zeit ›geschehen‹. Er wurde den Eindruck nicht los, dass seine Lage zu scheußlich sei, als dass man sie ganz ernst nehmen müsste. Es war eher wie eine Krankheit, die man ertragen musste, hinter der aber die sichere Genesung winkte. Jede Nacht schwor er sich, dass er nicht noch einmal eine solche durchmachen werde, und entschloss sich, am nächsten Morgen seinem Onkel, seinem Anwalt oder Lawson zu schreiben. Kam dann jedoch der Morgen, wo er den Entschluss hätte in die Tat umsetzen müssen, dann konnte er sich nicht überwinden, diesen Menschen sein völliges Versagen einzugestehen. Er wusste nicht, wie Lawson so etwas aufnehmen würde. Unter seinen Freunden hatte Lawson immer als Windbeutel gegolten, während Philip sich stets seines gesunden Menschenverstandes gerühmt hatte. Er würde dem Maler die ganze Geschichte seiner Narrheit berichten müssen. Er hatte ein unbehagliches Gefühl, dass Lawson ihm, nachdem er ihm geholfen hatte, die kalte Schulter zeigen könnte. Sein Onkel und der Anwalt würden natürlich etwas für ihn tun; aber ihm graute vor ihren Vorwürfen. Er wollte von niemandem Vorwürfe hören. Er biss die Zähne zusammen und wiederholte sich, dass das Geschehene unabwendbar gewesen war, da es eben geschehen war. Reue war sinnlos.
    Die Tage wollten kein Ende nehmen, die fünf Shilling, die er sich von Lawson geliehen hatte, würden nicht mehr viel länger reichen. Philip erwartete ungeduldig den Sonntag, wo er zu den Athelnys gehen konnte. Er wusste selbst nicht, was ihn zurückhielt, eher hinzugehen, höchstens der Wunsch, die ganze Sache allein durchzustehen. Athelny war der Einzige, der ihm eventuell helfen konnte, denn er hatte solche Dinge schon am eigenen Leibe erfahren. Vielleicht würde er, Philip, es über sich bringen, ihm nach dem Essen einzugestehen, dass er in Schwierigkeiten war. Er wiederholte sich immer von neuem, was er Athelny sagen wollte. Er hatte große Angst, Athelny würde ihn mit großartigen Redensarten abspeisen. Das wäre furchtbar! Philip schob, allen Erwägungen zum Trotz, das Hingehen bis zum Sonntag hinaus. Er hatte alles Vertrauen in seine Mitmenschen verloren.
    Die Nacht von Samstag auf Sonntag war kalt und rauh. Philip litt unsagbar. Von Samstagmittag bis zum Sonntag, als er sich schließlich müde und zerschlagen zu den Athelnys schleppte, hatte er nichts in den Magen bekommen. Er gab seine letzten Kupfermünzen aus, um sich am Sonntagmorgen im Waschraum des Charing-Cross-Bahnhofs zu waschen und zurechtzubürsten.
    101
     
    Als Philip läutete, wurde ein Kopf aus dem Fenster gestreckt, und innerhalb einer Minute hörte er auf der Treppe das lärmende Geklapper der Kinder, die ihm aufmachen kamen. Das Gesicht, das sich da zu den Kindern hinabbeugte, um sich küssen zu lassen, war schmal und bleich und von Sorgen gezeichnet. Ihre überschwengliche Zärtlichkeit rührte ihn so sehr, dass er Vorwände suchte, um auf der Treppe etwas verweilen zu können; er musste sich erst wieder fassen. Er war in einem Zustand der Hysterie; der kleinste Anlass

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