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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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sie an sich.
    Sie bot ihm ihre Lippen, sie waren warm und weich und voll; er ließ seinen Mund ein wenig auf ihrem ruhen, er war wie eine Blüte; dann, ohne dass er eigentlich selbst wusste, wie es kam, ohne dass er es gewollt hätte, schloss er sie in die Arme. Ganz still gab sie nach. Ihr Körper war fest und stark. Er fühlte ihr Herz gegen das seine klopfen. Dann verlor er den Kopf. Wie eine Flut überwältigten seine Sinne ihn. Er zog sie in den dunklen Schatten der Hecke.
    120
     
    Philip schlief wie ein Klotz und erwachte mit einem Ruck, weil Harold ihn mit einer Feder im Gesicht kitzelte. Ein Freudengeheul weckte ihn vollends, aber er war noch schlaftrunken.
    »Komm, du Faulpelz«, rief Jane. »Sally hat gesagt, sie wartet nicht auf dich, wenn du dich nicht beeilst.«
    Plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, was geschehen war. Ihm sank der Mut, er zögerte: Wie sollte er ihr gegenübertreten? Eine ganze Flut von Selbstvorwürfen brach in ihm los; er bedauerte bitterlich, was er getan hatte. Was würde sie heute Morgen zu ihm sagen? Es graute ihm davor, ihr nun zu begegnen; er fragte sich, wie er nur ein solcher Narr hatte sein können. Die Kinder ließen ihm jedoch keine Zeit: Edward nahm seine Badehose und sein Handtuch; Athelstan zog ihm die Bettdecke weg; drei Minuten später klapperten sie schon die Treppe hinunter. Sally begrüßte ihn mit einem Lächeln. Es war so süß und unschuldig wie immer.
    »Sie brauchen aber viel Zeit, um sich anzuziehen«, sagte sie. »Ich dachte schon, Sie kämen überhaupt nicht mehr.«
    Ihr Benehmen verriet nicht den kleinsten Unterschied. Er hatte eine Veränderung erwartet, eine ganz subtile oder auch eine heftige. Er hatte sich eingebildet, dass sie ihm gegenüber vielleicht Scham zeigen würde oder Zorn, vielleicht aber auch eine stärkere Vertraulichkeit – nichts davon. Sie war ganz genau wie zuvor. Sie gingen alle zusammen schwatzend und lachend zum Meer hinunter; Sally war still, aber so war sie stets, immer zurückhaltend, er kannte sie gar nicht anders, und immer liebevoll. Weder suchte sie ein Gespräch mit ihm, noch ging sie ihm aus dem Weg. Philip war verblüfft. Er hatte erwartet, dass der Zwischenfall gestern Nacht eine tiefgehende Umwälzung in ihr hervorgerufen hätte, aber alles war so, als wäre nichts geschehen. Genauso gut hätte es ein Traum sein können. Während er so dahinschritt, an der einen Hand ein kleines Mädchen, an der anderen einen Buben, und so unbekümmert wie nur möglich drauflosschwatzte, suchte er nach einer Erklärung für ihr Verhalten. Ob Sally wohl wünschte, dass er die ganze Sache vergäße? Vielleicht waren ihre Sinne mit ihr durchgegangen; vielleicht hatte sie sich entschlossen, es als einen Zufall hinzunehmen, ungewöhnlichen Umständen geschuldet, und nicht mehr daran zu denken. Er traute ihr eine Geisteskraft und eine reife Weisheit zu, wie sie sie eigentlich in ihrem Alter noch gar nicht haben konnte. Immerhin, schließlich wusste er nichts von ihr. Es war stets etwas Rätselhaftes an ihr gewesen.
    Sie spielten Bockspringen im Wasser, und das Bad war so ausgelassen wie am Tag zuvor. Sally bemutterte sie alle, ließ keinen aus den Augen und rief sie zurück, wenn sie zu weit hinausschwammen. Sie schwamm gesetzt rückwärts und vorwärts, während die andern ihre tollen Streiche trieben; gelegentlich ließ sie sich auch einmal reglos auf dem Rücken treiben. Nach einer Weile stieg sie aus dem Wasser und trocknete sich ab. Sie rief ziemlich entschieden nach den anderen; schließlich befand sich nur noch Philip im Wasser. Er nahm die Gelegenheit wahr und schwamm fest drauflos. Er hatte sich nun schon an das kalte Wasser gewöhnt und genoss die salzige Frische; es machte ihm Freude, seine Glieder frei zu gebrauchen, er schwamm mit langen, kräftigen Zügen. Sally kam jedoch mit einem Handtuch, das sie um sich geschlungen trug, zum Rand des Wassers.
    »Du sollst sofort herauskommen, Philip«, rief sie, als wenn er ein kleiner Junge wäre, den sie zu betreuen hatte.
    Als er, über ihre autoritäre Art, belustigt lächelnd zu ihr kam, schimpfte sie mit ihm.
    »Es ist ungezogen von dir, so lange drin zu bleiben. Deine Lippen sind schon ganz blau, und sieh mal, wie dir die Zähne klappern.«
    »Schön, ich komme heraus.«
    So hatte sie noch nie mit ihm geredet. Es war, als hätte das, was geschehen war, ihr ein Recht über ihn gegeben, als betrachte sie ihn wie ein Kind, um das man sich kümmern musste. Ein paar Minuten später

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