Der Menschen Hoerigkeit
Sie schrieb auf blauem Papier mit violetter Tinte, und sie schrieb französisch. Philip fragte sich, warum sie nicht wie eine vernünftige Frau auf Englisch schreiben konnte, und ihre leidenschaftlichen Beteuerungen ließen ihn kalt, weil sie ihn an die französischen Romane erinnerten. Sie machte ihm Vorwürfe, dass er noch nichts von sich hatte hören lassen, und er führte in seiner Antwort zur Entschuldigung an, dass er sehr beschäftigt gewesen wäre. Er wusste nicht recht, wie er den Brief anfangen sollte. Er konnte sich nicht überwinden, Liebste oder Liebling hinzuschreiben, und ebenso unmöglich schien es ihm, sie Emily zu nennen. Endlich entschloss er sich zu dem Wort Liebe. Es kam ihm merkwürdig und etwas dumm vor, wie es so allein dastand, aber er wollte es nun nicht mehr ändern. Es war sein erster Liebesbrief, und er konnte sich nicht verhehlen, dass er außerordentlich zahm war; er hatte das Gefühl, dass er allerhand leidenschaftliche Dinge hätte sagen müssen – wie er jede Minute des Tages an sie dachte und wie er sich danach sehnte, ihre schönen Hände zu küssen, und wie er bei dem Gedanken an ihre roten Lippen zitterte –, aber eine unerklärliche Befangenheit hinderte ihn daran; und stattdessen erzählte er von seiner Wohnung und seinem Büro. Die Antwort kam postwendend, böse, verzweifelt, vorwurfsvoll: Wie konnte er nur so kalt sein? Wusste er nicht, dass seine Briefe das Leben für sie bedeuteten? Sie hatte ihm alles gegeben, was eine Frau geben konnte, und das war der Dank? War er ihrer jetzt schon überdrüssig? Dann, als Philip ein paar Tage nicht antwortete, bombardierte ihn Miss Wilkinson mit Briefen. Sie könne seine Lieblosigkeit nicht ertragen, sie warte auf Post, aber niemals komme ein Brief von ihm, sie weine sich Nacht für Nacht in den Schlaf, sie sehe so krank aus, dass es jedem auffalle: Wenn er sie nicht liebe, warum sage er es nicht? Sie fügte hinzu, dass sie ohne ihn nicht leben könne und der einzige Ausweg Selbstmord sei. Sie sagte ihm, er sei teilnahmslos, egoistisch und undankbar. Sie schrieb französisch, und Philip wusste, dass sie diese Sprache benützte, um sich wichtig zu machen, aber dennoch war er besorgt. Er wollte sie nicht unglücklich machen. Nach einer kleinen Weile schrieb sie, dass sie die Trennung nicht mehr länger ertragen könne; sie habe sich entschlossen, über Weihnachten nach London zu kommen. Philip erwiderte, dass ihm nichts lieber wäre, aber dass er für die Weihnachtsferien leider schon eine Einladung zu Freunden aufs Land angenommen hätte. Darauf antwortete sie, dass sie sich ihm nicht aufdrängen wolle, aber es sei klar, dass er nicht den Wunsch habe, mit ihr zusammen zu sein. Sie war zutiefst verletzt, und sie hätte nie erwartet, dass er ihre Liebe mit solcher Grausamkeit vergelten würde. Ihr Brief war rührend, und Philip vermeinte Tränenspuren auf dem Papier zu sehen. Er schrieb eine impulsive Antwort, in der er ihr versicherte, dass es ihm schrecklich leid täte, und sie anflehte, doch auf alle Fälle zu kommen; nichtsdestoweniger fiel ihm eine Last von der Seele, als sie ihm im nächsten Brief mitteilte, dass es ihr unmöglich wäre, sich freizumachen. Bald wurden ihm ihre Briefe zur Last: Er schob es hinaus, sie zu öffnen, denn er wusste, was sie enthielten: Vorwürfe und herzzerreißende Bitten; er kam sich niederträchtig vor, wenn er diese Briefe las, und doch wusste er nicht, was er sich vorzuwerfen hatte. Er schob seine Antworten von Tag zu Tag hinaus, bis wieder ein Brief kam, in dem Miss Wilkinson berichtete, sie sei einsam und krank und unglücklich.
»Hätte ich doch nie etwas mit ihr angefangen«, stöhnte er.
Er bewunderte Watson, weil er so wunderbar mit derartigen Dingen umzugehen verstand. Der junge Mann hatte eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen angeknüpft, das bei reisenden Theatertruppen spielte, und seine Erzählungen über das Verhältnis hatten Philips neidvolle Bewunderung erregt. Aber nach einiger Zeit wandelten sich Watsons jugendliche Neigungen, und er beschrieb Philip den Bruch.
»Es hat keinen Sinn, so eine Sache unnötig aufzubauschen, und so sagte ich ihr denn geradeheraus, dass ich genug von ihr hätte.«
»Hat sie daraufhin keine Szene gemacht?«, fragte Philip.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll solche Dinge bei mir lieber nicht probieren.«
»Hat sie geweint?«
»Sie hat damit angefangen, aber ich kann weinende Frauen nicht ausstehen und habe ihr daher gesagt, sie soll sich aus dem
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