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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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wegen seiner krankhaften Scheu, lästig zu fallen, wartete er auf eine formelle Einladung, die verständlicherweise niemals eintraf, denn bei ihrem großen Freundeskreis vergaßen die Nixons den einsamen, stillen Jungen, dessen Anspruch auf ihre Gastfreundschaft gering war. So stand er denn sonntags spät auf und ging den Fluss entlang spazieren. In Barnes, wo er wohnte, war die Themse schlammig und schmutzig; sie hatte weder die Anmut wie oberhalb der Schleusen noch die Romantik des dichtbefahrenen Stromes unterhalb der London Bridge. Nachmittags schlenderte er über die Vorstadtwiesen, die ebenfalls grau und schmutzig waren; es war weder Stadt noch Land, der Ginster war verwachsen, und überall verstreut lag der Müll der Zivilisation. Jeden Samstagabend ging er ins Theater und stand eine Stunde oder noch länger vor dem Eingang der National Gallery. Es lohnte sich nicht, zwischen Museumsschluss und seinem Abendessen in einem billigen ABC -Restaurant nach Hause zu gehen, und die Zeit wurde ihm endlos lang. Er spazierte die Bond Street hinauf oder durch die Burlington Arcade, und wenn er müde war, setzte er sich in den Park oder, bei feuchtem Wetter, in die öffentliche Bibliothek in der St. Martins Lane. Er blickte neidisch auf die Leute, die vorübergingen, weil sie Freunde hatten, und manchmal verwandelte sich sein Neid in Hass. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass man in einer großen Stadt so einsam sein konnte. Wenn er vor dem Theatereingang wartete, geschah es zuweilen, dass er von einem der Nebenstehenden angesprochen wurde; aber Philip hatte die Scheu des Landjungen vor Fremden und schnitt mit seinen Antworten jede weitere Annäherung ab. Wenn das Stück zu Ende war, eilte er, ohne eine Menschenseele, der er seine Eindrücke mitteilen konnte, über die Brücke nach Waterloo. Und trat er dann in sein Zimmer, in dem aus Sparsamkeit kein Feuer angezündet worden war, so wurde ihm schwer ums Herz. Es war entsetzlich trostlos. Er fing an, seine Behausung und die langen einsamen Abende, die er dort verbrachte, zu hassen. Manchmal fühlte er sich so verlassen, dass er nicht imstande war zu lesen, und saß dann Stunde um Stunde vor dem Feuer und starrte in bitterem Kummer vor sich hin.
    Er war nun schon drei Monate in London und hatte, abgesehen von dem Sonntag in Hampstead, noch mit keinem Menschen außer seinen Bürokollegen gesprochen. Eines Abends lud ihn Watson in ein Restaurant zum Dinner ein, und nachher gingen sie miteinander in ein Varieté; aber Philip fühlte sich unbehaglich und befangen. Watson sprach die ganze Zeit von Dingen, die ihn nicht interessierten, und obgleich er Watson in seinem Innern für einen Philister hielt, konnte er doch nicht umhin, ihn zu bewundern. Er ärgerte sich, weil Watson offensichtlich keinen Wert auf Bildung legte, und empfand zum ersten Mal das Demütigende der Armut. Sein Onkel sandte ihm vierzehn Pfund monatlich, und einen großen Teil davon hatte er für Kleidung ausgeben müssen. Sein Smoking hatte ihn fünf Pfund gekostet. Er wagte nicht, Watson einzugestehen, dass er am Ufer der Themse gekauft war. Watson erklärte, es gäbe nur einen Schneider in London.
    »Sie tanzen wohl nicht«, fragte Watson eines Tages mit einem Blick auf Philips Klumpfuß.
    »Nein«, erwiderte Philip.
    »Schade. Man hat mich gebeten, Tänzer zu einem Ball mitzubringen. Ich hätte Ihnen ein paar nette Mädchen vorstellen können.«
    Das eine oder andere Mal hatte Philip sich nicht entschließen können, nach Hause zu gehen, und war bis spät in der Nacht in der Stadt geblieben. Er war durch die Straßen im West End gewandert, bis er zu einem Haus kam, in dem ein Fest gegeben wurde. Da stand er, inmitten eines Häufleins armseliger Menschen, hinter den Dienern und sah zu, wie die Gäste ankamen, und lauschte der Musik, die durch die Fenster drang. Manchmal trat trotz der Kälte ein Paar auf den Balkon hinaus und blieb einen Moment stehen, um frische Luft zu schnappen; es musste ein Liebespaar sein, meinte Philip, und schweren Herzens wandte er sich ab und hinkte davon. Niemals würde er an der Stelle jenes Mannes stehen können. Er hatte das Gefühl, dass es keine Frau gab, die ihn wegen seines Gebrechens nicht mit Abscheu betrachtete.
    Das erinnerte ihn an Miss Wilkinson. Er dachte mit Unbehagen an sie. Ehe sie sich getrennt hatten, waren sie übereingekommen, sich postlagernd zu schreiben, und als er das erste Mal am Schalter erschien, wurden ihm drei Briefe von ihr ausgehändigt.

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