Der Menschen Hoerigkeit
Philip hatte sich schon sehr auf das Wiedersehen mit ihm gefreut. Er hatte in der letzten Zeit viel gelesen und nachgedacht, so dass ihm viele Ideen im Kopf herumschwirrten, die er diskutieren wollte, und er kannte niemanden, der ein Interesse an abstrakten Dingen zeigte. Die Aussicht, sich mit jemandem austauschen zu können, machte ihn ganz selig. Aber zu seinem großen Kummer schrieb Hayward, das Frühjahr in Italien sei schöner denn je und er könne sich nicht losreißen. Ob Philip denn nicht auch kommen wolle? Es habe doch keinen Sinn, die Jugend in einem finsteren Bürozimmer zu vertrauern, da die Welt so schön sei. Der Brief lautete weiter:
Ich wundere mich, dass Du es ertragen kannst. Wenn ich an Fleet Street und Lincoln’s Inn denke, packt mich ein Schaudern. Es gibt bloß zwei Dinge auf der Welt, die das Leben lebenswert machen: Liebe und Kunst. Ich kann mir Dich gar nicht vorstellen, in einem Büro über dicken Folianten sitzend. Trägst Du einen Zylinder und einen Regenschirm und eine große schwarze Aktentasche? Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass man das Leben als Abenteuer auffassen muss – man muss sich der heiligen, kostbaren Flamme nähern, man muss wagen, sich der Gefahr zu stellen. Warum gehst Du nicht nach Paris und studierst Malerei? Ich habe immer gefunden, dass Du Talent hast.
Durch diese Anregung nahmen gewisse Überlegungen, die Philip seit längerer Zeit schon vage beschäftigten, deutlichere Formen an. Anfangs erschreckten sie ihn, allmählich schlichen sie sich aber immer öfter in seine Gedanken ein, und bald fand er in dem ständigen Grübeln, wie sie zu verwirklichen wären, die einzige Zuflucht vor den Kümmernissen der Gegenwart. Alle hatten ihm sein Talent bestätigt; in Heidelberg hatte man seine Aquarelle bewundert, Miss Wilkinson hatte ihm immer wieder erklärt, dass sie entzückend seien; selbst Fremde wie die Watsons waren überrascht über seine Skizzen. La Vie de Bohème hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte das Buch mit nach London genommen, und wenn er sehr unglücklich war, brauchte er nur ein paar Seiten zu lesen, um sich sofort in jene bezaubernden Dachkammern versetzt zu fühlen, wo Rodolphe und all die andern tanzten und liebten und sangen. Er begann, an Paris zu denken, wie er zuvor an London gedacht hatte, fürchtete aber keine zweite Enttäuschung; er sehnte sich nach Romantik und Schönheit und Liebe; und all das schien ihm in Paris vereinigt. Er hatte eine Leidenschaft für Bilder; sollte er nicht fähig sein, ebenso gut zu malen wie alle anderen? Er schrieb Miss Wilkinson und fragte sie, wie viel Geld er brauchen würde, um in Paris zu leben. Sie teilte ihm mit, dass er es mit achtzig Pfund im Jahr leicht schaffen müsste, und war begeistert von seinem Plan. Sie schrieb ihm, dass er zu gut dafür wäre, um in einem Büro zu verkommen. Wer wollte schon ein Beamter sein, wenn er ein großer Künstler sein könnte?, fragte sie dramatisch, und sie bat Philip flehentlich, an sich zu glauben: Das wäre das Wesentliche. Aber Philip war von Natur aus vorsichtig. Hayward konnte leicht davon reden, man müsste ein Risiko auf sich nehmen, hatte er doch dreihundert Pfund jährlich in mündelsicheren Papieren zur Verfügung. Philips ganzes Vermögen betrug nicht mehr als eintausendachthundert Pfund. Er war unschlüssig.
Zufällig ergab sich, dass Mr. Goodworthy ihn eines Tages plötzlich fragte, ob er Lust hätte, mit nach Paris zu kommen. Die Firma kümmerte sich um die Bücher eines Hotels im Faubourg St. Honoré, das einer englischen Gesellschaft gehörte, und zweimal im Jahr fuhr Mr. Goodworthy mit einem der Angestellten hinüber. Derjenige, der ihn sonst begleitete, war erkrankt, so war seine Wahl diesmal auf Philip gefallen, weil er am entbehrlichsten war und als Diplomkandidat ein gewisses Anrecht auf die vergnüglicheren Seiten des Berufes hatte. Philip war glücklich.
»Sie werden den ganzen Tag arbeiten müssen«, sagte Mr. Goodworthy, »aber die Abende gehören uns, und Paris ist Paris.« Er lächelte vielsagend. »Man kennt uns gut im Hotel, und wir haben alle Mahlzeiten frei. Der ganze Spaß wird uns also nichts kosten. So fahre ich am liebsten nach Paris – auf Kosten von anderen.«
Als sie in Calais ankamen und Philip die gestikulierende Schar von Trägern sah, hüpfte sein Herz.
›Das ist das wahre Leben‹, sagte er zu sich selbst.
Er wandte keinen Moment die Augen ab, während der Zug durch die Landschaft
Weitere Kostenlose Bücher