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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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wollte.
    Eine halbe Stunde später hatte er bei einer freundlichen Sechzigjährigen vierhundertachtzig Euro für eine komplette Woche bezahlt, hatte die Schlüssel erhalten und packte jetzt seine Sachen aus.
    Die Pension lag im vierten Stock eines Altbaus, den man zu Fuß über eine breite Treppe mit angenehm flachen Stufen oder mit einem klapprigen Fahrstuhl, der beängstigend ratternde und scheppernde Geräusche machte, erreichte. Jonathans Zimmer war groß und hell, hatte eine hohe stuckverzierte Decke und war eingerichtet wie zu Großmutters Zeiten. Dennoch faszinierten ihn das geschwungene Messingbett, der Kleiderschrank aus dunklem Eichenholz und das knarrende Parkett.
    Als seine Kleider verstaut waren, ließ er das Fenster offen und ging zum Griechen an der Ecke. Er brauchte jetzt dringend etwas zu essen und ein paar Gläser Retsina, um sich abzulenken. Denn er bekam fürchterliches Herzklopfen, wenn er an morgen dachte.
     
    Als er erwachte, war strahlend schönes Wetter, das ihn an Italien erinnerte. Sommer in Berlin. Warm, windstill und sonnig. Absolut kein Wetter für eine Beerdigung. An einem Grab zu stehen assoziierte er immer mit Regen und Kälte.
    In der Küche stand ein kleines Transistorradio, das er einschaltete. Der Stadtsender, der eingestellt war, sagte zweiunddreißig Grad voraus.
    Er hatte noch zwei Stunden Zeit. Im Bad blieb er vor dem Spiegel stehen. Es war jetzt neun Jahre her, dass Tobias Altmann ihn gesehen hatte. Im Gerichtssaal und in den paar Sekunden auf dem Flur, als er sich entschuldigt hatte. Damals hatte Jonathan kaputt, krank und völlig verwahrlost ausgesehen. Er hatte lange, ausgefranste Haare, einen Fünf-bis Sechstagebart und dunkle Schatten um die Augen gehabt. Jetzt war er ein völlig anderer Mensch. Hatte kurze Haare, eine leichte, gesunde Bräune und glatt rasierte, gepflegte Haut. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er für Tobias nicht wiederzuerkennen, aber sicherheitshalber rasierte er sich den Schädel noch vollkommen kahl. Mit dem Ergebnis war er sehr zufrieden, erkannte sich selbst kaum wieder und fühlte sich vollkommen entstellt.
    Anschließend duschte er, zog sich eine leichte Sommerhose an und ging frühstücken. Kaffee, Marmelade und ein leichtes Croissant. Danach quälte er sich in seinen schwarzen Anzug, den er ewig nicht mehr getragen hatte. Aber er passte noch, in den letzten Jahren hatte er seine Figur gehalten. Er versuchte sich zu erinnern, wann er den Anzug das letzte Mal bei einer Premiere, einem Ball oder Event gebraucht hatte, aber es gelang ihm nicht.
    In einer Blumenhandlung kaufte er eine weiße Lilie, rief ein Taxi, setzte sich eine dunkle Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg zum Marienfriedhof, um den Mörder seiner Tochter zu treffen.
     
    Vor der Kapelle waren mindestens fünfzig Leute versammelt. Jonathan wusste, dass er nicht gut schätzen konnte, vielleicht waren es auch achtzig oder mehr.
    Er stand ein bisschen verloren herum, trat von einem Fuß auf den anderen und merkte, dass ihm in seinem Anzug allmählich der Schweiß ausbrach. Die Gesichter waren ihm alle fremd.
    Um fünf Minuten vor halb elf fuhr ein dunkler Audi vor, und Ingrid stieg aus. Am Steuer saß eine sportliche Frau, die Jonathan ungefähr gleich alt schätzte, und ein blasser, beinah magerer Mann.
    In diesem Moment folgte ein silbriger Mercedes und parkte unmittelbar hinter dem Audi. Jonathan erkannte den Fahrer am Steuer sofort: Tobias. Und neben ihm seine Frau.
    Er ist es, dachte er, verdammt nochmal, er ist es wirklich. Hass stieg in ihm auf, und ihm wurde schwindlig.
    Die fünf gingen in die Kapelle, wo Sitzplätze in der ersten Reihe für sie reserviert waren. Die übrigen Gäste folgten, aber ein Drittel musste draußen stehen bleiben, die Kapelle war zu klein.
    Unter ihnen auch Jonathan.
    Er wartete eine Dreiviertelstunde, hörte unterschiedliche Stimmen, die mehr oder minder salbungsvoll und nur von Orgelmusik unterbrochen Reden hielten, aber er konnte den Wortlaut nicht verstehen. Am Schluss ertönte der Song San Francisco von Scott McKenzie vom Band.
    Aha, dachte Jonathan, ein Relikt der Männerfreundschaft oder Ingrids Erinnerung an romantische Stunden.
    Als der Sarg aus der Kirche getragen wurde, stand Jonathan an der Seite und ließ den Trauerzug an sich vorbeiziehen. Sein Interesse galt vor allem Tobias und seiner Frau. Er erkannte ihn wieder, die Szene im Gerichtssaal hatte er noch klar vor Augen, aber Tobias hatte nichts Jungenhaftes mehr an sich,

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