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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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sondern war zu einem attraktiven, aber ernst wirkenden Mann gereift, was natürlich auch mit der Begräbnissituation zu tun haben konnte. Er trug einen perfekt sitzenden Anzug und hatte einen Kurzhaarschnitt. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und strahlten Intelligenz aus, er machte alles in allem einen vertrauenerweckenden Eindruck.
    Die Frau an seiner Seite hielt seine Hand und wirkte traurig. Sie war keine vollkommene Schönheit, aber eine interessante Person, auf die man aufmerksam wurde, wenn man sie sah. Selbst hier auf dem Friedhof und trotz ihrer Trauer hatte sie eine offene und lebensbejahende Ausstrahlung.
    Jonathan suchte den Augenkontakt mit Tobias, er wollte testen, ob Tobias ihn ebenfalls erkannte oder von seinem Anblick zumindest irritiert war.
    Doch nichts dergleichen geschah. Jonathan konnte sicher sein, dass er sich nicht an ihn erinnerte. Beruhigt und äußerst zufrieden schloss er sich nun dem Trauerzug an.
    Auch am Grab stand Jonathan etwas abseits, aber so, dass er Tobias und seine Frau im Blick hatte.
    GANZ RUHIG, Sagte die Stimme, DU BRAUCHST JETZT VIEL GEDULD.
    Der Sarg wurde in die Erde gelassen. Ingrid weinte nicht mehr. Mit trockenen Augen starrte sie in das Grab und versuchte zu begreifen, was gerade geschah. Dann warf sie als Erste drei Schaufeln Erde auf den Sarg und wandte sich schnell ab, als könne sie diesen Moment nicht länger ertragen.
    Jonathan reihte sich in die lange Schlange derer ein, die auch Erde auf den Sarg warfen. Außerdem ließ er die Lilie ins Grab fallen.
    Anschließend ging er zu Ingrid und sah die Überraschung in ihren Augen, als sie ihn erkannte.
    »Es tut mir so unendlich leid«, sagte er leise und nahm ihre Hand in die seinen. »So unendlich leid. Bitte glauben Sie mir.«
    Ein Lächeln huschte über Ingrids Gesicht. »Danke, vielen Dank. Es ist wirklich nett, dass Sie extra gekommen sind! Sehen wir uns noch zur Trauerfeier?« Jonathan nickte, deutete eine Verbeugung an und entfernte sich.
    Das Restaurant Zur Linde lag neben dem Haupteingang zum Friedhof, nur ungefähr fünfzig Meter entfernt. Jonathan achtete darauf, nicht als Erster, aber auch nicht zu spät dort aufzutauchen, und bemühte sich, einen Platz in Tobias’ und Leonies Nähe zu bekommen, was ihm auch gelang.
    Ingrid hatte ein verspätetes Frühstück bestellt, mit süßen oder herzhaft belegten Brötchen, je nach Geschmack.
    »Danke, dass ihr alle da seid«, begann sie, als die Gäste Platz genommen hatten, »es tröstet mich zu wissen, wie viele Freunde und Bekannte ich habe, die Engelbert auch mochten und die mich in dieser schweren Stunde nicht alleinlassen. Bitte greift zu, es ist genug da, bestellt euch Tee, Kaffee, auch Wein, wenn ihr wollt – alles kein Problem.« Sie setzte sich wieder und machte einen sehr gefassten Eindruck. Hella, die neben ihr saß, legte ihr den Arm um die Schulter.
    Jonathan schwieg eine Weile und aß ein Lachsbrötchen. Dann lächelte er Leonie zu, die ihm gegenübersaß. Leonie lächelte zurück.
    »Vielleicht darf ich mich vorstellen«, sagte Jonathan, »mein Name ist Jonathan Valentini. Ich lebe in Italien, und bei mir ist dieses schreckliche Unglück passiert.«
    »Oh!«, meinte Leonie erschrocken.
    Tobias sah auf. »Hatten Sie gerade in Deutschland zu tun, oder sind Sie extra wegen der Trauerfeier hergekommen?«
    »Ich bin extra hierhergefahren. Ich dachte, ich wäre es zumindest seiner Frau schuldig, schließlich war es meine Treppe, die er hinuntergefallen ist. So profan sich das auch anhören mag.«
    »Das finde ich hochanständig von Ihnen.«
    Jonathan atmete tief durch und blickte auf seinen Teller. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Er muss so unglücklich gestürzt sein … Das war wie der berühmte Bordstein, über den man stolpert und sich dabei das Genick bricht.«
    Tobias ging nicht darauf ein und wechselte das Thema. »Seit wann leben Sie denn in Italien?«
    »Oh, lassen Sie mich nachdenken … Ja, ich glaube, es sind jetzt schon zwanzig Jahre. Wieso fragen Sie?«
    »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor«, antwortete Tobias lächelnd. »Hatten wir schon mal irgendetwas miteinander zu tun?«
    »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich komme auch nur selten nach Deutschland. Es zieht mich nichts mehr hierher, und seit meiner Scheidung habe ich dazu überhaupt keinen Grund mehr. Ich glaube, ich war in den letzten zwanzig Jahren vielleicht dreimal zu einem Kurzbesuch hier. Und diese Besuche sind – so wie heute – meist nicht sehr

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