Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
angenehm.«
    »Nein. Wahrlich nicht.«
    Die Szene im Gerichtsf lur hatte Jonathan deutlich vor Augen. Dieser verstörte junge Mann, der auf ihn zukam und eine verdammt unangenehme Pflicht erledigte: »Ich bin Tobias Altmann, ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid mir das mit Ihrer Tochter tut. Bitte entschuldigen Sie.«
    Jonathan überlegte, ob er Tobias erkannt hätte, wenn er nicht gewusst hätte, wer er war. In einem ganz anderen Umfeld, einer völlig anderen Situation. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Tobias war älter geworden, trug die Haare anders, hatte eine Brille. Nein. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte er ihn nicht erkannt.
    Leonie stand auf. »Ich setz mich mal rüber zu Hella.«
    Tobias nahm sich ein weiteres Brötchen mit Schinken von der großen Platte in der Mitte des Tisches.
    »Herr Dr. Kerner hat viel von Ihnen erzählt. Und von Ihrem Vater.«
    »Ach?« Tobias sah auf.
    »Ja. Wir haben am Abend vor seinem Tod zusammen gegessen. Er erzählte von Ihrem sagenhaften Jobangebot und war mächtig stolz auf Sie.«
    Tobias nickte geschmeichelt, wollte aber nicht näher darauf eingehen.
    »Sie sind also Anwalt? Für Wirtschaftskriminalität?«
    »Ja.«
    »Interessant.« Jonathan seufzte innerlich und nicht hörbar. Dieser Tobias war ein harter Brocken, für eine leichte, unverbindliche Konversation offensichtlich überhaupt nicht zu haben oder nicht geeignet.
    »Kommen Sie«, versuchte es Jonathan erneut, »lassen Sie uns ein Glas Sekt zusammen trinken. Wo ist Ihre Frau? Will sie vielleicht auch mit anstoßen?«
    »Sicher nicht.« Er beugte sich vor. »Rufen wir sie gar nicht erst, sie darf nämlich nichts trinken, sie ist schwanger!«
    »Noch ein Grund mehr!« Jonathan winkte der Bedienung. »Bitte bringen Sie uns doch zwei Gläser Sekt!« Die Serviererin nickte stumm.
    »Wann ist es denn so weit?«
    »Ende Januar. So um den zwanzigsten herum.«
    Jonathan hielt den Atem an, überlegte, und nur im Bruchteil einer Sekunde reiften in ihm ein Plan und ein Entschluss.
    »Bei meiner Frau wird es so um Weihnachten herum sein«, sagte er schnell, »ein Christkind!«
    »Wie?« Tobias lächelte. »Ihre Frau ist auch schwanger?«
    »Ja!« Jonathan strahlte stolz.
    »Das ist ja großartig!«
    Die Bedienung brachte die beiden Gläser.
    »Trinken wir auf unsere beiden hoffentlich gesunden Kinder!«
    Sie stießen an, prosteten sich zu und tranken.
    »Ingrid hat von Ihrem Anwesen erzählt, es muss wunderschön sein. Vielleicht kommen wir ja mal vorbei und machen ein paar Tage Urlaub!«
    »Sie sind jederzeit herzlich willkommen!«
    BRAVO, PAPS!
    Leonie kam zurück an den Tisch. »Dein Vater ist ziemlich fertig, Tobi, vielleicht gehst du mal zu ihm.«
    »Ja, das mach ich.« Tobias stand auf und zog eine Visitenkarte aus seiner Brusttasche. »Hier haben Sie unsere Adresse und Telefonnummer. Und falls Sie mal in Hamburg zu tun haben, schauen Sie doch einfach bei uns in Buchholz vorbei. Würde mich freuen!«
    »Danke. Sehr freundlich.«
    Tobias gab Jonathan die Hand, was Jonathan wunderte, da er davon ausging, dass Tobias sicher auf seinen Platz zurückkehren würde, aber dann dachte er nicht weiter darüber nach.
    In der Tasche hatte er die Visitenkarte und befühlte sie mit den Fingern. Ihm wurde klar, dass dieses kleine Stück Papier wahrscheinlich das Wichtigste war, das er in den vergangenen Jahren in der Hand gehabt hatte.

NEUNUNDZWANZIG
    Es war lausig kalt in der Kirche. Er hatte sich extra lange Unterwäsche, gefütterte Stiefel und den dicken Anorak angezogen, den er sonst bei der Feldarbeit trug, aber er fror trotzdem. Die lilafarbene Stola hatte er über den Anorak gehängt, es war ihm klar, dass sein Aufzug mehr als merkwürdig aussah, aber es war dunkel im Beichtstuhl. Er brauchte sich keine Gedanken zu machen, ob es irgendjemanden störte, denn er war allein. Wie fast jeden Samstagnachmittag saß er so in Dunkelheit und Kälte, aber es kam selten jemand. Unmittelbar vor Weihnachten und Ostern beichteten ein paar alte Frauen, und er fragte sich, warum. Es war ihnen kaum möglich zu sündigen, und außer dass sie einer Nachbarin im Streit die Pest an den Hals gewünscht hatten, gab es nichts zu sagen und nichts zu bereuen.
    Er rieb sich die Hände und versuchte, die Zehen zu bewegen, damit seine Füße warm wurden, aber es half alles nichts. Ich werde Tiziano anrufen und mir eine kleine Lampe in den Beichtstuhl legen lassen, dann kann ich lesen, und die Zeit ist wenigstens nicht ganz verloren, überlegte

Weitere Kostenlose Bücher