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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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wieder an Gianni.
    »Und dann? Was ist dann passiert?«
    »Mehr hab ich nicht gehört. Als ich um die Hausecke gebogen bin, hat Jonathan sich erschrocken, als er mich gesehen hat, und gesagt, der Typ wäre tot und ich sollte Bappo anrufen.«
    »Ich hab Hunger«, quengelte Oma, aber niemand beachtete sie.
    »Was sagst du dazu, Neri?« Gabriella sah ihren Mann mit klarem, aufmerksamem Blick an.
    »Nichts. Ob er noch ein paar Sekunden gelebt hat, als Jonathan dazukam, ändert ja nichts an der Tatsache. Er ist ihm wahrscheinlich einfach unter den Händen weggestorben.«
    »Und warum hat er dir das dann nicht auch genauso erzählt?«
    »Das hat er mir ja genauso erzählt!«
    »Dann hast du es mir eben aber ganz falsch erzählt!«
    »Ja, kann sein, Gabriella, ich hab jetzt nicht jeden Satz auswendig gelernt, und ich bin auch ein bisschen fertig nach der ganzen Sache, das kannst du mir glauben.«
    »Das glaub ich dir ja.« Ihre Stimme wurde weich, und sie schlug bewusst diesen sanften Tonfall an, weil sie wusste, dass sie ihn dann besser erreichte. So hörte er ihr wenigstens zu. Wenn sie ihn kritisierte, machte er dicht oder ging aus dem Zimmer. »Vielleicht solltest du so bald wie möglich ein ganz detailliertes Gedankenprotokoll anfertigen, solange du dich noch erinnerst, damit du nicht noch mehr vergisst.«
    Neri nickte, obwohl es ihn ungemein störte, dass sie ihn wie einen dummen Schuljungen behandelte. Aber warum hatte Jonathan nicht erzählt, dass der Gast vor Schmerzen geschrien hatte? Er konnte nichts sagen, er röchelte ganz fürchterlich. Das war Jonathans Aussage gewesen, und das hörte sich ganz anders an.
    »Könnte es vielleicht sein, dass Jonathan sich mit diesem Gast gestritten hat und irgendwas mit der Sache zu tun hat?«, erkundigte sich Gabriella vorsichtig. »Ich meine, fragen und nachdenken kostet ja nichts …«
    »Nein, das kann nicht sein«, explodierte Neri, »deine Horrorfantasien gehen mir auf den Geist, Gabriella, und jetzt möchte ich davon nichts mehr hören! Keinen Ton! Sondern endlich – verdammt nochmal – was essen!«
    »Guter Junge«, kommentierte Oma und sah Neri dankbar an. Offensichtlich war dieser Fremde der Einzige, der ihr zugehört hatte und sich dafür interessierte, was sie sagte.

SOFIA

ACHTUNDZWANZIG
    Den Abschied von Sofia konnte er einfach nicht vergessen. Sie hatte sich verzweifelt an ihn geklammert, geschluchzt und geweint und ihn unaufhörlich angefleht, nicht wegzufahren.
    »Ich kann nicht leben ohne dich, Jonathan! Und ich will auch nicht mehr leben ohne dich!«
    »Ich komme wieder, Sofia. Das verspreche ich dir! Aber siehst du denn nicht ein, dass ich da hinfahren muss? Ich will kondolieren, und es geht nicht, dass ich jetzt einfach nur eine Antwort schicke, und das war’s dann.«
    »Ja«, hauchte sie. »Aber trotzdem.«
     
    Fünf Tage nachdem die Leiche Dr. Kerners nach Deutschland überführt worden war, kam die Todesanzeige.
    Was einer ist, was einer war,
beim Scheiden wird es offenbar.
Wir hören’s nicht, wenn Gottes Weise summt;
Wir schaudern erst, wenn sie verstummt.
    Hans Carossa (1878 -1956)

     
    stand oben links in der Ecke.
    Und darunter:
    DR. ENGELBERT KERNER
(23.3.1945 – 14.6.2007)
    wurde durch einen tragischen Unfall aus unserer Mitte gerissen.

    In tiefer Trauer
Ingrid Kerner
und Familie
    Die Beerdigung findet am 24. 6. um 10 Uhr 30 auf dem Marienfriedhof in der Waldstraße statt, mit anschließender Trauerfeier im Restaurant Zur Linde.
    Statt Blumen erbitten wir eine Spende an das Unfallopfer-Netz e. V.
     
    Er las die Karte bestimmt fünfundzwanzigmal.
    FAHR HIN! , schrie die Stimme.
    Engelberts Familie würde bei der Beerdigung anwesend sein, außerdem Kollegen, Bekannte und Freunde. Hundertprozentig Engelberts bester Freund, der Ingenieur. Und ganz bestimmt auch dessen Sohn Tobias, der gefeierte Jurist.
    Und somit stand sein Entschluss fest.
     
    Mit zitternden Fingern fuhr Sofia ihm durch die Haare und übers Gesicht, streichelte ihn und weinte dabei.
    »Ich liebe dich so sehr«, flüsterte sie, »das kannst du dir vielleicht gar nicht vorstellen.«
    »Doch, das kann ich.« Er küsste sie und schmeckte ihre salzigen Tränen.
    »Was soll ich bloß tun?«
    »Wir telefonieren jeden Tag. Und du darfst niemals daran zweifeln, dass ich wiederkomme. Keine Sekunde. Du musst einfach an mich und an uns glauben.«
    Sie nickte.
    Er nahm sie in den Arm und küsste sie lange. »Pass auf dich auf.«
    Dann stieg er in den Wagen und startete den Motor.

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