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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Regal gleich neben dem Küchenschrank stand ganz oben links die Büchse mit den Spaghetti. Sie ertastete sie sofort und hob sie an. Sie war leer.
    Es war oberstes Gebot auf La Passerella, dass derjenige, der irgendetwas aufbrauchte, ob Toilettenpapier, Kaffee, Nudeln oder Reis, sofort ins Magazin ging, um Ersatz zu holen. So ersparte man Sofia die mühsame Prozedur des Suchens im nicht sehr ordentlichen Magazin.
    Amanda hielt sich allerdings nur selten daran. Sie war nachlässig, unachtsam und vergesslich und legte die Dinge oft nicht an die vereinbarte Stelle. Sofia verzweifelte fast daran, denn irgendeinen Gegenstand im Haus zu suchen war für eine Blinde so gut wie aussichtslos.
    Sie drehte sich vom Herd weg, lief mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Küche, machte genau im richtigen Moment den Bogen um den Küchentisch und betrat den Portico.
    Einen Moment hielt sie inne und verharrte still. Die trockenen Blätter der Eichen rauschten im Wind, und ein Blatt knisterte, als es über die Steine geweht wurde.
    Sofia atmete tief durch und ertappte sich dabei, dass sie auf Jonathan wartete und darauf hoffte, seine Schritte auf dem Kies vor dem Haus zu hören.
     
    Eine halbe Stunde später hatte Sofia die Nudeln bereits gekocht, als Amanda, völlig verschlafen und offensichtlich schlecht gelaunt in die Küche schlurfte.
    »Verflucht«, sagte sie, »ich hab mir in diesem fürchterlichen Bett den Hals verdreht und bekomme Kopfschmerzen. Du hast mich ja auch noch nicht massiert! Wie soll ich kochen, wenn ich vor Schmerzen kaum stehen kann?«
    »Ich massiere dich nach dem Essen.«
    »Das ist zu spät. Wenn eine Ader eingeklemmt ist, hat man – eh man sich’s versieht – einen Schlaganfall. Und das ist mein Ende.«
    »Setz dich, dann massiere ich dich. Aber Papa kommt in einer halben Stunde.«
    »Pahhh!« Amanda schnaubte. »Die Pasta mach ich dir in fünf Minuten. Das ist eine meiner kleinsten Übungen.«
    Amanda ließ sich auf einen Stuhl fallen, sackte in sich zusammen und atmete so tief aus, dass es aussah, als entwiche sämtliche Luft aus ihrem Körper. Sofia stand hinter ihr, zog das Hemd herunter, goss etwas Olivenöl auf die Haut und knetete die massigen Schultern, wobei Amanda wohlig stöhnte.
    Zehn Minuten später betrat Jonathan, leise »permesso« murmelnd, die Küche.
    »Oh, Entschuldigung«, sagte er erschrocken, »bin ich zu früh?«
    »Nein«, meinte Sofia, »Essen ist gleich fertig. Genug jetzt, Mama.« Sie zog ihr das Hemd wieder über die Schultern. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
    Jonathan setzte sich und fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut.
    Für ihre Verhältnisse stand Amanda ungewöhnlich schnell auf und schaukelte zur Spüle.
    »Na, dann woll’n wir mal«, tönte sie, zog aus einem Berg schmutzigen Geschirrs eine verdreckte Pfanne und ließ sie auf den Herd krachen. Jonathan war sprachlos und sah ihr mit Entsetzen zu.
    Alles, was Amanda dann tat, geschah mit ungeheurem Tempo.
    Sie nahm zwei Zwiebeln aus einem Netz, das neben dem Fenster hing, pulte sie ab und schnitt sie schnell in kleine Würfel, knipste ein paar Knoblauchzehen aus einer Knolle, zerdrückte sie, indem sie mit ihrer fleischigen Hand auf die Zehen drückte und sich mit ganzem Gewicht daraufstemmte, schmiss alles in die Pfanne, angelte eine schmutzige Gabel aus der Spüle und löste damit kratzend den uralten, festgetrockneten Bratensatz. Dann holte sie ein Stück Speck aus dem Kühlschrank, schnitt es in kleine Würfel, ebenso ein paar Tomaten und Zucchini, und ließ alles braten.
    »Mach mal’ne Flasche Wein auf«, befahl sie Sofia, »wir haben’s gleich.«
    Sofia holte eine Flasche Rotwein, die neben dem Küchenschrank auf der Erde stand, sowie einen Korkenzieher aus der linken Schublade des Küchenschrankes und wollte gerade beginnen, die Flasche zu öffnen, als Jonathan sie ihr aus der Hand nahm.
    »Lassen Sie mich das machen«, sagte er, »ich bin ja froh, wenn ich auch was tun kann.«
    Er öffnete die Flasche und gab sie Amanda, die ihm zwischen ihren dicken Wangen ihr strahlendstes Lächeln schenkte, »grazie« flötete und fast eine halbe Flasche Rotwein in die Pfanne goss.
    »Ich liebe es zu kochen«, kreischte sie, »und wenn ich einen so hübschen Gast habe, dann zaubere ich!«
    »Was hat sie gesagt?«, fragte Jonathan, und Sofia übersetzte: »Meine Mutter hat gesagt, dass ihr Kochen Spaß macht, wenn sie nette Gäste hat.«
    Jonathan nickte und lächelte Amanda zu, die in diesem Moment niesen musste

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