Der Menschenraeuber
absoluter Regungslosigkeit. Die Stadt bot ungeahnte Möglichkeiten, und Giselle war davon überzeugt, noch nie in ihrem Leben so glücklich und frei gewesen zu sein.
Es war Ende Mai, als sie im Volkspark auf einer Parkbank saß und gerade ihre Pizza auspackte, die sie essen wollte, bevor sie mit dem Zeichnen begann, als auf einer Bank rechts gegenüber ein junger Mann ihre Aufmerksamkeit erregte. Die Kopfhörer eines Walkmans auf den Ohren, saß er reglos da, den rechten Arm seitlich auf die Rückenlehne gestützt.
Sie beobachtete ihn. Er kam ihr vor wie aus Gips, wie ein Kunstwerk, eine Skulptur mitten im Park. Er wirkte wie tot, und sie konzentrierte sich auf seinen Brustkorb, um zu sehen, ob er überhaupt atmete.
Er war ihr unheimlich, weil er ihr so fremd erschien, und dann auf einmal sah sie, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen.
Da saß ein Mann, größer, kräftiger und auch älter als sie, auf einer Parkbank an einem sonnigen Tag im Mai und weinte.
Giselle stand auf, setzte sich neben ihn und legte ihm sanft eine Hand auf den Rücken.
»Hey«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass er es wegen der Kopf hörer wahrscheinlich nicht hören konnte.
Er reagierte nicht, zuckte noch nicht einmal.
Es kostete sie Mut und Überwindung, doch dann streckte sie vorsichtig und langsam ihre Hand aus und streichelte seinen Rücken ganz zart, fast so, als wolle sie verhindern, dass er es spürte.
Er weinte immer noch. Sie legte den Arm um ihn.
Und schließlich drehte er sich um und sah sie an. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, nahm den Kopf hörer ab und lächelte, sonderbar berührt.
»Ach, Scheiße«, sagte er leise.
»Schon gut«, meinte sie, »kein Problem.«
Sie ließ ihn los. Jetzt saßen sie beide wie Fremde nebeneinander.
»Was hörst du da?«, fragte Giselle.
»Rachmaninow. Trio élégiaque. Nummer zwei.«
»Ah ja. Das in d-Moll. Ich mag auch die Nummer eins in g-Moll. Ich mag sie beide, sogar sehr.«
Das verschlug ihm die Sprache. Sie kannte seine Musik. Sie kannte nicht nur Rachmaninow, sondern sogar das Trio élégiaque.
»Was ist?«, fragte sie. »Was hast du? Willst du es mir sagen?«
»Meine Mutter ist gestern gestorben.«
»Oh.«
Sie wagte nicht, ihn noch einmal zu berühren, aber jetzt legte er den Arm um ihre Schultern. Sie ließ es zu, war sogar froh darüber.
»In so einer Situation würde ich auch Rachmaninow hören«, flüsterte sie.
Zwei Tage später zeigte sie ihm ihr kleines Atelier unterm Dach. Patrick war überwältigt von ihren Bildern, und am meisten faszinierte ihn ihr Selbstporträt, an dem sie gerade arbeitete.
»Das ist genial, Giselle. Viel besser als eine Fotografie. Irgendwie strahlt es eine Magie aus, der man sich nicht entziehen kann.«
»Ich werde es meinem Vater schenken. Er hat im Juni Geburtstag.«
»Aber zeig es vorher deinem Prof. Er sollte wirklich mal sehen, was du hier so nebenbei für Wahnsinnsbilder malst! Ich frage mich sowieso, warum du überhaupt noch studierst, perfekter kann man nicht malen. Dir kann doch keiner mehr was beibringen! Jetzt musst du nur noch eine Galerie finden und bekannt werden, dann wird man sich um deine Bilder prügeln, und du wirst reich!«
»Hör auf, so zu reden«, meinte sie und schämte sich fast. »Wenn man so was vorher sagt, dann geht es nicht in Erfüllung. Dann zerschlagen sich alle Träume.«
Patrick lachte und drückte ihr einen Kuss aufs Haar.
Jonathan und Jana kamen um halb zwölf aus der Oper. Sie hatten sich »Othello« von Verdi angesehen, und obwohl es eine der Lieblingsopern von Jana war, stieg sie ziemlich verstimmt aus dem Auto, als Jonathan in die Auffahrt fuhr und unter dem Carport parkte. Sie war in der Pause im Foyer leicht umgeknickt und hatte Schmerzen im linken Knöchel. Obwohl sie sicher war, dass die Schmerzen in wenigen Tagen verschwunden sein würden, ärgerte sie sich. Es war schwierig und anstrengend zu unterrichten, wenn man selbst nicht fit war, und morgen hatte sie fünf Kurse. Seit zweieinhalb Jahren hatte sie einen Tänzer mit dem wenig klingenden Namen Ralf eingestellt, der die Jazz-und Stepptanzkurse übernommen hatte, was sie ungemein entlastete. Sie spürte schon, dass es ihr allmählich schwerer fiel, von morgens bis abends zu unterrichten. Außerdem gehörte ein kleiner, magerer Klavierspieler zum Team, der sämtliche Kurse begleitete. Er war bereits fünfundsechzig Jahre alt, hatte das zerfurchte Gesicht eines Fünfundachtzigjährigen, da er jede freie Minute
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